"Man muss die Leute dort abholen, wo sie sich aufhalten." Chantal Mouffe ist davon überzeugt, dass man rechten Rattenfängern nicht das Feld überlassen darf.

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Als politische Theoretikerin versteht sich Chantal Mouffe auf die hohe Kunst, linke wie rechte Kommentatoren gegen sich aufzubringen. In ihrer neuen Streitschrift Für einen linken Populismus plädiert die belgische Professorin für eine Politik, die das Feld der Auseinandersetzung nicht länger rechten Rattenfängern überlässt. Als überzeugte Postmarxistin fordert Mouffe Vitaminstöße für eine neoliberal verkrustete Demokratie. Auf Einladung des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) nahm Mouffe am Humanities-Festival teil, wir baten sie um eine kleine Tour d'Horizon.

STANDARD: Folgt man Ihrer Argumentation, so soll der Populismus nicht ausschließlich rechten Parteien und Bewegungen vorbehalten bleiben. Populismus könne im Gegenteil einen Ausweg weisen aus der Verkrustung "postdemokratischer Verhältnisse". Was verstehen Sie unter Postdemokratie?

Mouffe: Populismus entspringt einer Haltung des Widerstands. Die postdemokratischen Verhältnisse, die ich konstatiere, sind das Produkt von 30 Jahren Neoliberalismus. Wir konnten beobachten, wie die europäische Sozialdemokratie immer mehr in die Mitte rückte. Denken Sie an Tony Blair, an Gerhard Schröders "Neue Mitte". Sie befanden, dass es zum Neoliberalismus keine Alternative gebe. Wenn die Bürger an die Urnen gerufen wurden, standen keine echten Alternativen zur Auswahl.

STANDARD: Nichts, was einen Unterschied ausmacht?

Mouffe: Wenn Sozialdemokraten an die Macht kamen, dann wechselte die Regierung, aber in der Politik machte das keinen Unterschied. Einen nicht minder wichtigen Aspekt der Postdemokratie nenne ich die "Oligarchisierung". Ich meine den Finanzkapitalismus, vor allem aber die wachsende Kluft zwischen einer verschwindend kleinen Gruppe von Superreichen und einer verarmenden Masse. Die Gesellschaft wurde weitaus tiefer gespalten als vor der sozialdemokratischen Herrschaft.

STANDARD: Das Gleichheitsgebot wurde vernachlässigt?

Mouffe: Das Prinzip der Volksherrschaft trat in den Hintergrund. Sozialdemokratische Politik trug nur dafür Sorge, dass die Verhältnisse stabil blieben. Dabei propagierte Blair in England, man räume den Menschen mehr Wahlmöglichkeiten ein: Du kannst dir die Schule für deine Kinder aussuchen, kannst deinen Arzt wählen ...

STANDARD: Züge einer Scheindemokratie?

Mouffe: Volksherrschaft kann nur bedeuten, dass die Menschen gehört werden und eine echte Wahl zwischen Alternativen besitzen. Natürlich gab es weiterhin Parlamentswahlen. Aber ihr Wert tendierte gegen null. Wahlen, ein grundsätzlicher Respekt vor den Menschenrechten: Auf solche Grundvoraussetzungen kann sich echte Demokratie nicht beschränken.

STANDARD: Linke populistische Bewegungen sind dennoch erfolglos geblieben?

Mouffe: Es gibt wenig Spielraum für linke Bewegungen. Wo wäre ein solcher hier, in Österreich etwa? Wir haben Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland, Jeremy Corbin führt Labour in England an. Die Sache steht und fällt mit der Frage, ob die Linke tatsächlich eine überzeugende Alternative zum Neoliberalismus anbieten kann.

STANDARD: Sie haben – in Anlehnung an Carl Schmitt – die Unterscheidung von "Wir" und "Sie" als konstitutiv für den demokratischen Diskurs ausgewiesen.

Mouffe: Alle stürzen sich auf Schmitt, den "Kronjuristen des Dritten Reichs". Man sagt Schmitt, schon schlagen alle die Hände zusammen. Ich meine etwas anderes: Es stehen sich zwei Konzepte gegenüber. Das des Zusammenschlusses, das sich mit der Frage nach der Freiheit beschäftigt, mit Überlegungen zum Gemeinwohl. Liberale bevorzugen das Modell. Dann gibt es eines der Trennung und Abgrenzung. Es meint: Wo Politik wirksam wird, entstehen Konflikte.

STANDARD: Sie meinen: Jede Gesellschaft ist grundsätzlich geteilt oder gespalten?

Mouffe: Es gibt Konflikte zwischen Feinden, die ich "antagonistisch" nenne. Ihre Lösung ergibt sich nicht gleich dadurch, dass man sich zusammensetzt und diskutiert. Eine solche Vorstellung existiert seit Machiavelli, man kann sie nicht auf Schmitt reduzieren. Politik bringt notwendig Trennendes zur Geltung. Und sie hat mit Ausbildung kollektiver Identitäten zu tun.

STANDARD: Eine Ansicht, die der Liberalismus nicht teilt?

Mouffe: Der glaubt vor allem an den Abgleich individueller Interessen. Wer politisch agiert, tut dies als ein kleiner Teil der Gesamtwelt. Ich glaube nicht an essenzialistische Konzepte. Identitäten werden immer hergestellt, sie sind uns nicht von vornherein gegeben. Die Herstellung der Unterscheidung von "Uns" und "Ihnen" muss man, wie im Strukturalismus, als bloße Relation auffassen. Jede Form von Identität bedarf der Unterscheidung. Ohne Grenzziehung bleibt Politik undenkbar. Vor diesem Gedanken scheuen überzeugte Liberale eher zurück.

STANDARD: Was unterscheidet den linken vom rechten Populismus?

Mouffe: Man kann das "Volk" auf viele verschiedene Weisen herstellen. Marine Le Pen tut dies in Frankreich auf komplett andere Weise als Jean-Luc Mélenchon. Der Front National agitiert gegen die Zuwanderer, während Mélenchon über Pensionsfonds oder internationale Zusammenarbeit spricht oder vor schädlichen Tendenzen des Neoliberalismus warnt. Populismus bedeutet nicht ein auf immer und ewig gültiges Zwangsregime. Man kann Populismus auch nicht festlegen. Er ist auch keine Ideologie, denn er kann progressiv sein oder unterdrückerisch. Er meint keinen Inhalt, sondern beschreibt die Weise, wie man politische Unterscheidungen herstellt. Die einen schüren Ausländerhass oder Nationalstolz. In meinem Buch Für einen linken Populismus plädiere ich dafür, die progressiven Kräfte zu stärken. Ich will politisch intervenieren. Wie lässt es sich verstehen, dass die Werktätigen populistisch wählen? Was setzt man dieser Tendenz entgegen?

STANDARD: Wie spricht man die Massen an?

Mouffe: Ich bestehe auf die Wichtigkeit der Affekte. Linke Politik neigt dazu, zu rationalistisch zu sein. Aber auch Leidenschaft ist eine politische Kategorie. Nicht "das beste Programm" macht das Rennen, sondern das Wecken von Affekten. Diesen Mechanismus darf man nicht den Rechten überlassen. Wir müssen die Leute dort abholen, wo sie sich aufhalten. Wir müssen sie so nehmen, wie sie sind, und nicht so, wie wir meinen, dass sie gefälligst zu sein haben. (Ronald Pohl, 8.10.2018)