Bild nicht mehr verfügbar.

Interpol-Chef Meng Hongwei wurde von China zum Rücktritt gezwungen.

Foto: AP/DuYu

Chinas sozialistisches Parlament (Volkskongress) lobte sich im März dafür, eine Lanze für den Rechtsstaat und gegen die Willkür gebrochen zu haben. Es verabschiedete nach nur einer Lesung sein erstes Überwachungsgesetz gegen Amtsmissbrauch und Korruption. Seine 69 Paragrafen seien die Rechtsgrundlage für die gleichzeitig gegründete Nationale Überwachungskommission. Zwar erhielt die neue Kommission, die Chinas Parteizentrale direkt untersteht, die Befugnis, neben den 89 Millionen Parteimitgliedern auch gegen leitende Angestellte im Fall von Korruptionsverdacht vorzugehen. Doch immerhin verlangt das neue Gesetz, dass Beschuldigte außer in extrem komplizierten Fällen nur dann festgenommen werden dürfen, wenn Fluchtgefahr, Selbstmord, Vertuschung oder Fälschung von Beweismitteln drohen. Zudem müssen ihre Arbeitsstelle und die Familienangehörigen innerhalb von 24 Stunden nach der Festnahme informiert werden.

Verdächtige Umstände

Sechs Monate später hält sich Peking weder an die Gesetze noch an sein Versprechen zu Transparenz. Am 25. September landete Interpol-Chef Meng Hongwei, der 2016 als erster Chinese in dieses Amt gewählt wurde, von Paris kommend in Peking. Er verschwand nach seiner Ankunft in den Fängen der Parteikontrolleure aus der Überwachungsbehörde. Diese informierte nicht einmal seine in Frankreich lebende Frau. Sie erstattete Anzeige, als sich ihr Mann nicht mehr bei ihr meldete.

Elf Tage später veröffentlichten Chinas Sicherheitsbehörden am Sonntag um Mitternacht zuerst nur einen Satz auf ihrer Webseite. Sie hätten den 64-jährigen Meng festgenommen und ermittelten gegen ihn wegen "mutmaßlichen Verstoßes gegen Chinas Gesetze". Sie reagierten nervös auf Anfragen von Interpol in Lyon und Frankreichs Polizei, die Mengs "besorgniserregendes Verschwinden" zum internationalen Vorfall machten. Zugleich meldete das Interpol-Sekretariat, dass es eine von Meng stammende Erklärung erhalten habe: Er wolle "mit sofortiger Wirkung" als Präsident zurücktreten.

Vorwurf der Korruption

Montagmittag schoben Pekinger Sicherheitsbehörden pauschale Vorwürfe gegen Meng nach, der sein Amt als chinesischer Vizeminister behalten hatte. Ihre höchsten Parteigremien verdammten ihn nach einer Krisensitzung. In einer langen Erklärung unterstützte die Staatspolizei seine Festnahme "aus vollem Herzen". Dann warfen sie ihm in dem Schreiben neben ideologischer Untreue und Verrat an Parteichef Xi Jinping indirekt auch Korruption und die Annahme von Bestechungsgeldern vor.

Fünfmal beschworen sie, immer unter Nennung von Xis Namen, ihre Loyalität zu dessen absoluter Führung und Autorität, die Meng offenbar nicht gezeigt hatte. Sie forderten zudem, "radikal den giftigen Einfluss von Zhou Yongkang auszumerzen". Gemeint ist Chinas einstiger Sicherheitszar und Gegner von Xi. Er wurde 2013 festgenommen und im Juni 2015 zu lebenslanger Haft verurteilt. Mengs Karriere als Vizeminister begann 2004 unter der damaligen Amtsführung von Zhou. Welche Verbindung er danach zu Zhou hatte, wird nicht genannt.

Übliche Vorgehensweise

Mengs plötzlicher Fall stellt erneut die Frage nach der Willkür der Festnahmen durch allmächtige Parteibehörden in China. Jüngst war das auch bei Nur Bekri so, dem Leiter der Nationalen Energiebehörde und früheren Chef der Provinz Xinjiang. Er war unauffindbar, bis die Antikorruptionsbehörde verlautbarte, dass sie wegen Korruption gegen ihn ermittelt.

Das Handeln nach eigenem Gutdünken praktizieren auch chinesische Steuerbehörden. Sie nahmen Anfang Juli den Filmstar Fan Bingbing fest. Die 37-Jährige tauchte erst Anfang Oktober wieder auf. Die Behörde statuierte an ihr ein Exempel zur Abschreckung und bestrafte sie ohne Gerichtsverfahren zu einer fast sechsmal höheren Geldbuße, als sie Steuern hinterzogen hatte. Fan muss umgerechnet 110 Millionen Euro zahlen. Sie willigte ein, um nicht in Haft zu kommen, und verfasste einen Reuebrief, in dem sie der Partei dankte.

Rückschlag für internationales Renommee

Die grotesken Umstände des Verschwinden von Interpol-Chef Meng bedeuten einen Rückschlag für Pekings Anstrengungen, als zivilisierte Nation in internationalen Gremien Anerkennung zu finden. Meng wurde 2016 mit seiner Wahl zum Interpol-Chef prominentes Mitglied einer Gruppe von 14 Präsidenten oder Generalsekretären chinesischer Nationalität in internationalen oder UN-Organisationen. Nach dem UN-Beitritt 1971 hatte es mehr als 30 Jahre gedauert, dass sich Chinesen aus der Volksrepublik für internationale Spitzenposten qualifizierten und ausreichend Vertrauen erlangten, um gewählt zu werden. Nach Recherchen des STANDARD besetzten sie im vergangenen Jahrzehnt mehr als 50 international führende Positionen.

Unklar ist, welche schwerwiegenden Vorwürfe Pekings Führung bewogen haben, gegen Meng spektakulär vorzugehen und damit ihr Image aufs Spiel zu setzen. Meng war es gelungen, Interpol für die Antikorruptionskampagne seines Staatschefs Xi einzuspannen. Als Vizeminister für öffentliche Sicherheit hatte er noch vor seiner Wahl die Zusammenarbeit der Volksrepublik mit der Weltpolizei vorbereitet, um Wirtschaftskriminelle aufzuspüren, die ins Ausland geflohen waren. Im April 2015 verbreitete Interpol dann Chinas Fahndungslisten mit den Steckbriefen der 100 meistgesuchten Kriminellen unter ihren Mitgliedsländern als "rote Meldungen". Bis Ende Juli hatten sich 54 der Gesuchten gestellt oder waren an Peking ausgeliefert worden.

Mengs Fall wurde bizarrer und noch geheimnisvoller, als Chinas Zensur ab dem vergangenen Freitag Auslandssender wie die BBC und CNN ausblendete, sobald sie über ihn berichteten. Auch am Montag war das noch der Fall. (Johnny Erling aus Peking, 8.10.2018)