Gradmesser für die Qualität einer Demokratie seien allein Wahlergebnisse, sagt Ungarns Außenminister Péter Szijjártó.

Foto: MFA/Zsolt BURGER

Innsbruck – Am vergangenen Freitag war Ungarns Außenminister Péter Szijjártó, zu dessen Agenden auch der Handel zählt, zu Gast beim informellen Treffen der Handelsminister in Innsbruck. Dem STANDARD gewährte er bei diesem ersten Auftritt auf der europäischen Bühne seit Einleitung des Rechtsstaatlichkeitsverfahrens nach Artikel 7 gegen Ungarn ein exklusives Interview. Szijjártó legt ausführlich dar, wie sich Ungarn die Zukunft der EU vorstellt, warum er von Kanzler Sebastian Kurz enttäuscht ist und wieso die ungarische Regierung in George Soros einen Feind Europas sieht.

STANDARD: Sie sind anlässlich des Treffens der EU-Handelsminister nach Innsbruck gereist. Hat sich die Stimmung der EU-Partner gegenüber Ungarn seit der Eröffnung des Rechtsstaatlichkeitsverfahrens geändert?

Szijjártó: Das ist ein Handelstreffen, und die laufen meist pragmatischer ab, als wenn wir uns nur mit Politik befassen. Ungarn ist ein wirtschaftlich sehr offenes Land mit einer Exportquote von über 90 Prozent. 80 Prozent dieser Exporte gehen in die EU. Daher pflegen wir eine sehr enge Zusammenarbeit mit den meisten europäischen Handelspartnern. Investoren schätzen die niedrigen Steuern in Ungarn ebenso wie die gut ausgebildeten Fachkräfte und die politische Stabilität. Die kümmern sich nicht so sehr um politische Meinungsverschiedenheiten.

STANDARD: Hatte das Rechtsstaatlichkeitsverfahren bislang negative Auswirkungen auf die ungarische Wirtschaft?

Szijjártó: Wenn ich mit Investoren verhandle, interessieren die sich nicht dafür, wie ein Land dargestellt wird. Die interessieren sich für den Shareholdervalue. Die beziehen ihre Informationen nicht allein aus Medien, sondern kommen ins Land und machen sich selbst ein Bild. Hätten sich große Unternehmer allein auf die Berichterstattung der internationalen Medien verlassen, hätten wir in den vergangenen vier Jahren in Ungarn nicht immer wieder neue Investitionsrekorde zu verzeichnen gehabt.

STANDARD: Einige Ihrer politischen Verbündeten aus der Europäischen Volkspartei (EVP) wie die österreichische VP haben für die Einleitung des Rechtsstaatlichkeitsverfahrens gestimmt. Hat das Verhältnis zu Sebastian Kurz dadurch Schaden genommen?

Szijjártó: Österreich und Ungarn verbindet eine lange gemeinsame Geschichte, deshalb waren wir nach dem Statement von Kanzler Kurz nicht wirklich überrascht. Aber persönlich muss ich dazu sagen, dass es eine sehr schlechte Erfahrung für mich war. Denn uns verband eigentlich eine sehr gute Freundschaft. Ich habe mit ihm schon als Außenminister zusammengearbeitet, und wir haben einander in diversen Gremien unterstützt, als noch niemand sonst unsere Positionen unterstützt hat. Ich selbst habe ihn in innenpolitischen Angelegenheiten öfters unterstützt. Aber das Leben geht weiter, Österreich ist unser zweitwichtigster Handelspartner. Wir werden auch in Zukunft zusammenarbeiten, wir sind natürliche Verbündete.

STANDARD: Zuletzt gab es Diskussionen über die Mitgliedschaft der Fidesz in der EVP. Das rechtspopulistische Bündnis Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF), dem auch die FPÖ angehört, bot einen Platz in ihren Reihen an. Werden Sie den annehmen?

Szijjártó: Wir sind die erfolgreichste Partei innerhalb der EVP und eine der größten Gruppen. Daher sind wir sehr daran interessiert, sie bei den nächsten EU-Wahlen zum Erfolg zu führen. Aber es gibt innerhalb der EVP eine große Debatte über die künftige Ausrichtung der EU. Uns erwarten viele historische Herausforderungen – wie die Migration oder der Brexit. Zudem ist die EVP in sich sehr breit aufgestellt – von nordischen Moderaten bis hin zu zentraleuropäischen Patrioten, wenn man so will. Wir wollen an dieser Diskussion in der EVP teilnehmen, um sie wieder näher zu ihren Gründungsidealen zurückzuführen. Sehr vereinfacht gesagt hoffen wir, die Antimigrationskräfte innerhalb der EVP zu stärken. Denn derzeit ist dort das Promigrationslager deutlich stärker. Das wollen wir ändern.

STANDARD: Wenn das nicht klappt, wäre ein Austritt aus der EVP für Sie denkbar?

Szijjártó: Nein, wir sind Mitglied und werden alles dafür tun, die EVP zu verändern. Wir sind eine Partei, die versteht, was das Volk will, und die das repräsentiert. Das spiegeln unsere Wahlergebnisse wider. Diesem Erfolgsrezept sollte auch die EVP folgen.

STANDARD: Brexit-Wortführer Nigel Farage hat Ungarn nahegelegt, ebenfalls aus der EU auszutreten. Wäre das eine Option für Sie?

Szijjártó: Nein, absolut nicht. Ein starkes Ungarn ist nur in einem starken Europa möglich. Für uns bedeuten eine starke EU, aber schwache Mitgliedstaaten einen Widerspruch. Wir bekennen uns zu einem auf starken Mitgliedstaaten basierenden Europa.

STANDARD: Aber die EU ist eine supranationale Organisation. Das bedeutet für die Mitglieder, dass sie Macht an diese höhere Ebene abgeben müssen.

Szijjártó: Es steht sogar in unserer Verfassung, dass ein Teil unserer Souveränität darin besteht, sie zusammen mit der EU auszuüben. Aber wir wollen nicht, dass die Mitgliedstaaten darüber hinaus Kompetenzen an Brüssel abgeben. Nehmen wir als Beispiel den Grenzschutz. Wir sehen nicht ein, warum die EU irgendwelche Aufgaben oder Rechte bei der Sicherung der Grenzen übernehmen sollte. Wir schützen unsere Grenzen selbst. Wir haben einen anderen Vorschlag: Die Mitglieder des Schengenraums sind verpflichtet, ihre Grenzen zu schützen. Kommt ein Land dieser Pflicht nicht nach, sollte die Schengenmitgliedschaft ausgesetzt werden und die EU einspringen.

STANDARD: Einerseits ist Ungarn mit rund 33 Milliarden Euro aus EU-Mitteln seit 2010 einer der größten Nettoempfänger. Andererseits schüren Sie in Ihrem Land antieuropäische Stimmung, wie etwa im Zuge der sogenannten nationalen Konsultationen, für die Fragebögen an Haushalte versandt werden, die EU-kritische Suggestivfragen beinhalten. Wie passt das zusammen?

Szijjártó: Wir sind proungarisch, und wir sind proeuropäisch. Das heißt, wir wollen ein starkes Ungarn in einer starken EU. Im Moment bewegt sich die EU aber aus unserer Sicht in eine falsche Richtung. Wir hoffen, es kommt nach den nächsten EU-Wahlen zu einer komplett neuen Zusammensetzung der Kommission. Denn die jetzige lieferte eine sehr armselige Performance ab, die viel Schaden verursacht hat. 2019 wird die Zahl der Mitgliedstaaten erstmals abnehmen, die früher stets stabilen transatlantischen Beziehungen sind sehr zerbrechlich geworden, wir hatten in den vergangenen drei Jahren 33 Terrorattacken in der EU, die den Tod von mehr als 300 Personen und die Verletzung von mehr als 1.300 Menschen verursachten. Diese wurden von Personen mit Migrationshintergrund ausgeführt.* All das zeugt vom Versagen der jetzigen Kommission, und wir freuen uns, eine neue zu bekommen.

STANDARD: Aber Ungarn hat eben doch finanziell von der bisherigen EU profitiert.

Szijjártó: Die Förderungen der EU sind keine Einbahnstraße. Wir empfinden es als Beleidigung, wenn diese Fördermittel als Akt der Großzügigkeit der westeuropäischen Staaten dargestellt werden. Mit unserem Beitritt sind wir mit der EU einen Vertrag eingegangen. Wir öffneten unseren Markt, damit westeuropäische Unternehmen, die zu diesem Zeitpunkt viel stärker waren als die ungarischen, hier enorme Profite erzielen konnten. Im Gegenzug erhielten wir EU-Mittel, um die Entwicklung des Landes voranzubringen. Und gemäß Untersuchungen der Europäischen Kommission selbst kommen 70 Prozent der Fördermittel, die die EU in zentraleuropäische Staaten steckt, westeuropäischen Firmen zugute und fließen somit praktisch wieder zurück.**

STANDARD: Sie betonen, sich niemals in die Angelegenheiten souveräner Staaten einzumischen. Doch am vergangenen Donnerstag eskalierte ein diplomatischer Streit um die ungarische Minderheit in der Ukraine, nachdem Ungarn auf eigene Faust Doppelstaatsbürgerschaften ausgestellt hat, obwohl diese in der Ukraine verboten sind. Ist das denn kein Eingriff?

Szijjártó: In dem Fall geht es nicht um bilaterale Beziehungen, sondern um internationales Recht. In der Ukraine leben 150.000 Ungarn, deren Minderheitenrechte verletzt werden. Wir stellen also nicht infrage, ob die Ukrainer die richtige Regierung gewählt haben oder ob diese Regierung die richtigen Maßnahmen trifft, was Justiz, Soziales oder Wirtschaft angeht. Uns interessiert nur, dass sie der ungarischen Minderheit ihr Recht vorenthält, ihre Sprache zu verwenden und zwei Staatsbürgerschaften zu besitzen. In der Ukraine werden bereits erworbene Rechte wieder entzogen, und das steht in Widerspruch zur ukrainischen Vorbereitungsagenda zum Nato-Beitritt und dem Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine. Und all das, obwohl wir die Ukraine immer unterstützt haben. Diese Feindseligkeiten sind sehr eigenartig. Sie wollen näher an die EU, aber attackieren Doppelstaatsbürger eines EU-Mitgliedes. Sie wollen in die Nato, aber stationieren Truppen an der Grenze zu einem Nato-Mitglied. Das macht keinen Sinn.

STANDARD: Wie stehen Sie eigentlich zur Annexion der Krim durch Russland? Ungarn unterhält ja sehr gute Kontakte zu Russland, ist aber gleichzeitig EU-Mitglied und muss diesen Kurs mittragen. Ein Spagat?

Szijjártó: Zum einen: Die territoriale Integrität der Ukraine würden wir niemals infrage stellen. Zum anderen: Wer hat ein Naheverhältnis zu Russland und wer nicht? Mein sehr guter Freund Sebastian (Kurz, Anm.) hatte gestern sein bereits viertes Treffen mit Präsident Putin in diesem Jahr. Frankreichs Präsident Macron hat heuer schon zwölfmal mit Putin am Telefon gesprochen und war Stargast des Wirtschaftsforums in St. Petersburg. Ich war diese Woche bei den Energiegesprächen in Moskau, und am Ehrentisch rund um Putin positioniert saßen die vier Vorstände der vier größten westlichen Energiekonzerne. Deshalb habe ich genug davon, dass Ungarn so dargestellt wird. Denn die Westeuropäer haben viel engere Beziehungen zu Russland als wir. Der Unterschied ist, dass mit oberflächlichen Streitereien das Big Business dahinter verschleiert werden soll. Wir sind ja nicht blöd, das nicht zu erkennen.

STANDARD: Was die Annexion der Krim angeht, sind Sie also auf Linie mit der EU?

Szijjártó: Ja, absolut.

STANDARD: Sie haben den wirtschaftlichen Erfolg Ungarns erwähnt. Trotzdem haben seit 2010 rund 600.000 gut ausgebildete junge Leute das Land verlassen. Kritiker sprechen von einem wahren Braindrain. Am unteren Ende verlassen viele Arme Ungarn, weil das Sozialsystem nur sehr schlecht funktioniert.

Szijjártó: Eins vorweg: Wir haben fast Vollbeschäftigung in Ungarn. Die Arbeitslosenrate liegt bei 3,5 Prozent.

STANDARD: Weil Sie ihre Arbeitslosigkeit in die EU exportieren, sagen Kritiker.

Szijjártó: Das stimmt nicht. Wenn man sich die zentraleuropäischen Staaten ansieht, wird deutlich, dass in den anderen weit mehr Menschen außer Landes leben. 2017 war das erste Jahr, in dem mehr Menschen nach Ungarn zurückgekehrt als ausgewandert sind – weil die Löhne konstant steigen und immer mehr attraktive Jobs entstehen. Außerdem ist die Personenfreizügigkeit doch einer der großen Vorteile der EU. Jeder kann arbeiten, wo er will. Natürlich wäre es mir auch lieber, wenn alle gut ausgebildeten Ungarn im Lande blieben. Das können wir erreichen, indem wir für Wirtschaftswachstum sorgen und ihnen etwas bieten.

STANDARD: Sie verweisen auf wirtschaftlichen Erfolg und die Ansiedelung großer Unternehmen als Gradmesser für ein stabiles Ungarn. Das sagt aber noch nichts über die Qualität der Demokratie im Land aus. Sie selbst benutzten zuletzt den Terminus der illiberalen Demokratie. Was heißt das für Ungarn?

Szijjártó: Demokratie wird anhand von Wahlen gemessen. Alles andere ist nur eine Geschmacksfrage oder Geschwätz. In Ungarn hatten wir eine Rekordwahlbeteiligung von 70 Prozent. Allein unsere Partei erhielt 49,6 Prozent der Stimmen. Dreimal in Folge erreichten wir eine verfassungsgebende Mehrheit. Wenn die Situation in Ungarn wirklich so schlimm sein soll, warum erhalten wir dann eine solche Unterstützung durch das Volk?

STANDARD: Wahlen sind eine Säule der Demokratie. Eine andere wichtige sind Medienfreiheit und -vielfalt. Die wurden in Ungarn aber dramatisch eingeschränkt.

Szijjártó: Wenn Sie in Ungarn ins Internet gehen, werden Sie sehen, dass es ein Übergewicht an regierungskritischen Seiten gibt. Damit habe ich auch keinerlei Problem. Der populärste ungarische Privatsender RTL Klub ist extrem regierungskritisch und hat nie einen Hehl daraus gemacht, diese Regierung abzulehnen. Selbstverständlich gibt es auch regierungsnahe Medien, aber das ist in einer Demokratie normal. Diese Darstellung stimmt also nicht, die ungarischen Medien sind ausgewogen.

STANDARD: Der österreichische Politikwissenschafter Anton Pelinka, der an der Central European University von George Soros in Budapest lehrt, fand sich im April dieses Jahres auf einer Art "schwarzen Liste" von 200 Personen wieder, die eine regierungsnahe ungarische Zeitung veröffentlicht hat. Diese Personen wurden als "Söldner" und "Leute des Spekulanten" dem Netzwerk des Milliardärs Soros zugeschrieben. Am Tag, als diese Liste veröffentlicht wurde, rief die österreichische Botschafterin in Ungarn Pelinka an, um sich bei ihm zu erkundigen, ob er sich bedroht fühle und Schutz brauche. Was sagen Sie dazu?

Szijjártó: Das war ein Artikel in einer Zeitung. Nicht die Regierung hat das veröffentlicht. Wie können Sie darauf basierend ein Urteil über Ungarn fällen? Ich könnte eine Vielzahl von Beleidigungen gegen mich oder andere Regierungsmitglieder aufzählen, die in Zeitungen standen. In einer Demokratie muss man damit leben können, dass Leute sagen, man sei nicht der Richtige. Egal ob als Politiker, Professor oder Sportler.

STANDARD: Sie sagen also, das sei nur ein Artikel in einer Zeitung. Umgekehrt reden Sie aber ständig von einem Soros-Plan. Wo ist der? Wo kam der her? Basiert diese Geschichte nicht auch nur auf einem Zeitungsartikel?

Szijjártó: Doch, der existiert. Die Quelle des Soros-Plans ist George Soros selbst. Er hat eine sehr klare Vorstellung von der Zukunft Europas. Er hat zu diesem Thema viele Interviews gegeben, und im Internet sind dazu viele Strategiepapiere zu finden. Er skizziert darin eine postchristliche, postnationale Ordnung, in der nationale Identitäten und funktionierende Grenzen noch weniger Bedeutung haben als jetzt. Er spricht in einem Interview von mindestens einer Million Migranten, die pro Jahr nach Europa kommen sollen. Soros will einen Bevölkerungsaustausch, daran ist er interessiert.

STANDARD: Aber war das wirklich ein Plan – oder war es nicht vielmehr nur ein Satz in einem Interview?

Szijjártó: Nein, das sind strategische Papiere, die von ihm selbst oder NGOs, die er unterstützt, verfasst wurden. Was er in Interviews und Statements sagt, steht im totalem Widerspruch zu dem, was wir uns für die Zukunft Europas vorstellen. Es ist also eine offene Debatte.

STANDARD: Was sagen Sie zu folgendem Vergleich: Was Gülen für die Regierung Erdoğan in der Türkei ist, ist Soros für die Regierung Orbán in Ungarn.

Szijjártó: Ich mag solche Vergleiche nicht. Es ist eine offene Debatte zwischen ihm und uns.

STANDARD: Ist es wirklich nur eine Debatte? Mir wurde gesagt, Soros würde sich nicht mehr nach Ungarn trauen.

Szijjártó: Er hat eine andere Vorstellung von Europa als wir. Er hat sehr klar gemacht, dass er diese Regierung am liebsten absetzen würde. Was wir wiederum nicht wollen. Da war und ist immer noch ein Konflikt zwischen ihm und uns. Das ungarische Volk hat kristallklar entschieden, auf welcher Seite es steht. (Steffen Arora, 9.10.2018)