Vor dem Untergang kommen Heuchelei und Habgier: Roman Kaminski als Lear und Ruth Brauer-Kvam als Narr in Stephanie Mohrs detailfreudiger Shakespeare-Inszenierung.

Karlheinz Fessl

Klagenfurt – König Lear schildert den Zerfall einer Epoche. Destruktive und konstruktive Kräfte reiben einander gegenseitig auf. Als alle tot sind, kommt mit Edgar Gloucester ein Ausgestoßener an die Macht, der bis dahin in der Wildnis gelebt und den Wahnsinn des Kultursturzes schon im Voraus gespiegelt hat. Alle vorausgegangenen Warnungen ungewöhnlicher Klimaerscheinungen wurden ignoriert.

Nicht, dass William Shakespeare ein Anhänger des Astrologen Nostradamus gewesen wäre. Aber bei den ungewöhnlichen Klimaerscheinungen muss das Uraufführungspublikum 1606, aller Historizität des Stoffes zum Trotz, doch an den Herbst des Vorjahres gedacht haben, in dem sich Mond und Sonne über ganz Europa verfinsterten.

Und wenn jetzt in Stephanie Mohrs Klagenfurter Neuinszenierung betont wird, dass alle wissenschaftlichen Erklärungen von Wetterkapriolen nichts daran ändern, dass die Natur davon betroffen ist, sind wir wieder in der Gegenwart. In der heutigen.

Die Tragödie hat im späten Shakespeare den dunklen, grandiosen Poeten freigesetzt, der sich im Wahnsinn Edgar Gloucesters als "armer Tom" ebenso austoben kann wie im Wahnsinn Lears und in den verrückten Wahrheiten seines Narren. Darauf gründet Stephanie Mohrs detailbedachte Inszenierung. Sie ist der Bogen, von dem aus die Wörter energiegeladen durch den Raum schwirren. Auf einer völlig überdimensionalen, schräg nach vorn gekippten Festtafel wird Vaterliebe geheuchelt, wo Habgier und Machtgelüst aus jedem Satz quellen.

Aufstieg und Fall

Schon diese weißen Blusen und schwarzen Hosen lechzen nach Aufstieg (Kostüme: Nicole von Graevenitz). Valerie Koch kann als Tochter Regan vom Säuseln sekundenschnell in Entschlossenheit fallen. Isabel Schosnig als ihre verbissene Schwester Goneril ist eine Aufsteigerin, der man nur aus dem Weg gehen kann. Und schon da, noch bevor alles Familienporzellan zerschlagen ist, beweist sich Roman Kaminski in der Hybris des Titelhelden als der emphatische Charakterdarsteller, als der er gefeiert wird.

Die Festtafel besteht aus geneigten Podesten, die, auseinandergerückt, zur Landschaft um Dover werden (Bühne: Miriam Busch). Blinkend herabhängende Stahlketten veranschaulichen den strömenden Regen, der mit dem Orkan einhergeht, in den Goneril und Regan den Vater jagen. Dort versammelt man sich zum finalen Massaker.

Für sich gesehen jeder irgendwie verständlich, zusammen genommen eine Katastrophe: der skrupellose, von seinem Minderwertigkeitskomplex getriebene Bastard Edmund des Dennis Cubic, der wohlmeinende, gerade dadurch berührend in die Irre gehende Graf von Gloucester des Heiner Stadelmann und natürlich die arme Codelia der Raphaela Möst, die gute Tochter Lears. Der spitzzüngige Narr der Ruth Brauer-Kvam malt während der Schlussszenen ein Psychogramm der Untergeher. Shakespeares bitterste Diagnose zuletzt: Es kommt nichts Besseres nach. (Michael Cerha, 9.10.2018)