"Viele der Jungen hat die Furcht erfasst, den sozialen Status der Eltern nicht mehr halten zu können", sagt Heinzlmaier.

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In seinem Text "Über die Geschichte" aus dem Jahr 1917 setzt sich Walter Benjamin mit dem Geschichtsbewusstsein seiner Zeit auseinander, indem er anhand des Bildes Angelus Novus von Paul Klee über Geschichte und Fortschritt reflektiert. Im "Angelus Novus" sieht Benjamin den Engel der Geschichte. Der Engel hat den Blick der Vergangenheit zugewandt. Dieser Blick zurück fällt auf ein Trümmerfeld. Der Engel möchte verweilen, "um Tote zu wecken und das Zerschlagene zusammenzufügen", aber der Sturm des Fortschritts verfängt sich in seinen Flügeln und treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, die ihm ungewiss ist, weil er ihr den Rücken zugekehrt hat. Die unbestimmte und unverbürgte Zukunft ist aber die Hoffnungszeit. Auf ihr ruht die Erwartung auf ein erfülltes Leben in Geborgenheit und Sicherheit.

100 Jahre später erscheint dem 2017 verstorbenen Soziologen Zygmunt Bauman der Engel der Geschichte gewendet, er hat einen "U-Turn" vollzogen. Der Vergangenheit hat er nun den Rücken zugedreht, sein entsetzter Blick ist auf die Zukunft gerichtet, und er wird von einem Sturm in Richtung Vergangenheit getrieben, der einem "vorauseilend gefürchteten höllischen Morgen entstammt". Hoffnungsort ist nun ein paradiesisches, vorgestelltes Gestern, das mit Emphase zurückgewünscht wird. Der Wunschort ist nicht mehr die Zukunft, es ist die Vergangenheit. Utopia wird ersetzt durch Retrotopia.

Mit seiner Neuinterpretation von Walter Benjamins Engel der Geschichte trifft Zygmunt Bauman den "Zeitgeist" einer Epoche, die die Zukunft fürchtet und die Vergangenheit nostalgisch verklärt. Wie ist es dazu gekommen, dass das Zukünftige dystopisch geworden ist und das Gestern idealisiert wird? Werfen wir zunächst einen Blick auf empirische Daten. In der Gruppe der unter 30-Jährigen sind es gar 75 Prozent, für die das Leben primär von der Suche nach Halt bestimmt ist. Gleichzeitig lassen sich im Feld des Kulturkonsums "Regrounding-Effekte" beobachten. Die Vergangenheitssehnsucht erscheint dort in Form der Liebe zu Volksmusik und Trachten.

Immer dagegen anrennen

Die Gründe für das Umschlagen der Zukunftshoffnung in Zukunftsangst, der utopischen Zukunftsbejahung in dystopische Zukunftsfurcht, beschreibt Oliver Nachtwey in seinem Buch Die Abstiegsgesellschaft. Für Nachtwey ist es das Ausgeliefertsein an einen unberechenbaren Markt und die damit verbundene Unsicherheit und Flüchtigkeit des individuellen sozialen und kulturellen Status, der den Menschen das Fürchten lehrt. Überhaupt ist die Stellung in der Statushierarchie der Gesellschaft nicht mehr dauerhaft, kann nicht mehr als langfristig fixiert betrachtet werden. Wer seine Position halten will, muss täglich gegen die Drift nach unten ankämpfen, gegen einen ständigen Sog, der einen in die Tiefe zu ziehen droht. Das allegorische Bild für ein Leben in permanenter Abstiegsgefährdung ist die niemals stillstehende Rolltreppe. Der Mensch der Postmoderne muss gegen die Fahrtrichtung permanent nach oben laufen, um seine Position halten zu können. Wer nur kurz stehen bleibt, fährt ohne Halt in die Lebenswelt der Unterschichten hinab.

Eine ganz ähnliche Metapher, die Zygmunt Bauman für die gesellschaftliche Drift nach unten verwendet, ist die des Abhangs. Für Bauman spielt sich das Leben der Menschen auf abschüssigem Terrain ab. Das wichtigste Ziel für die am Abhang Lebenden ist es, den Halt nicht zu verlieren. Das gelingt nur durch permanentes Ankämpfen gegen das Abrutschen.

Bauman stellt fest, dass dieser Abhang von Jahr zu Jahr steiler wird, insbesondere für die Jungen. Haben die Eltern noch relativ sichere Normalarbeitsverhältnisse mit langfristigen Beschäftigungsgarantien, so ist die Arbeitsplatzwelt für die Millennials unkalkulierbar, unbeständig, episodisch, unsicher, sprunghaft. Von heute auf morgen kann alles anders sein. Das Streben nach einer befriedigenden, stabilen und angemessenen Anstellung kann nur vorübergehend erfolgreich sein. Langfristige Stabilität bleibt unerreichbar.

Planbarkeit und Redundanz, eine tragende Säule der traditionellen Erwerbsbiografie, werden durch spontane Ereignishaftigkeit und damit auf Dauer gestellte Ungewissheit ersetzt. Schneller als man denken und schauen kann, kommt man ins Gleiten, driftet nach unten. Viele der Jungen hat die Furcht erfasst, den sozialen Status der Eltern nicht mehr halten zu können: Die Kinder fürchten für sich, die Eltern für ihre Kinder. (Bernhard Heinzlmaier, 6.1.2018)