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Was europäische Kultur ausmacht, ist die Fähigkeit, diese Vielfalt aus aller Welt in einen funktionierenden Sinnzusammenhang zu bringen, findet Wolfgang Schmale.

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Wolfgang Schmale ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien. Seine Schwerpunkte sind europäische und französische Geschichte, Rechts- und Verfassungsgeschichte der Neuzeit.

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Gibt es so etwas wie eine europäische Kultur, und ab wann kann man diese erstmals beobachten? Wie wichtig ist es, von Einwanderern Offenheit gegenüber vielfältigen Identitätsentwürfen einzufordern, und wie schwierig ist es, das zu bekommen, hält man sich die immer restriktiver werdende Politik in Europa vor Augen? Der Historiker Wolfgang Schmale hat im Rahmen der aktuellen Semesterfrage der Universität Wien die Frage "Was eint Europa?" für sich beantwortet und die Vielfalt als Grund herangezogen. Zahlreiche Postings aus der Community bezogen sich auf diese These, und Userinnen und User diskutierten daraufhin mit Wolfgang Schmale im Forum. Auf einige ausgewählte Postings nimmt er in diesem Artikel ausführlicher Bezug.

Wolfgang Schmale: Eben deshalb ist es nötig, über Vielfalt zu reden. Meistens wird Vielfalt rein kulturell verstanden, aber das ist zu wenig. Vielfalt steckt in Europa überall drin, sonst funktioniert Europa nicht. In den aktuellen EU-Verträgen haben die Mitglieder wieder mehr nationale Vorbehalte eingebaut und das Prinzip der Subsidiarität gestärkt. Meines Erachtens steckt darin ein Denkfehler, weil dies keineswegs Vielfalt garantiert und schon gar nicht Vereinheitlichung verhindert. Wenn letztere kontraproduktiv wird, weil sie alles bürokratisch zu erdrücken droht, muss man darüber nachdenken, ob man im europäischen Recht mehr Vielfalt zulassen muss. Zu den europäischen und nationalen Zielen zählt immer noch, so viel Wohlstand wie möglich für möglichst viele Menschen zu schaffen. Daher hängen viele Entscheidungen für EU-einheitliche Regeln davon ab, dass unlauterer ökonomischer Wettbewerb verhindert wird. Mit gutem Grund will man die Politik nationaler Egoismen nicht mehr, weil sie allen, aber auch dem einzelnen Staat schaden. Deshalb betreiben die Mitgliedstaaten immer wieder – in aller Stille – die Vereinheitlichung von Regeln, um nicht von anderen abgehängt zu werden. Wenn sich dann Protest regt, schiebt man das auf Brüssel. Ist das ehrliche Politik?

Wolfgang Schmale: Ich reduziere Europa nicht auf Vielfalt, das wäre ein Missverständnis. Aber Vielfalt ist eine zentrale Eigenschaft Europas, und zwar von Anfang an. Man kann diskutieren, ab wann wir es mit so etwas wie europäischer Kultur zu tun haben, aber wann immer man einsetzt – Antike, mittelalterliches karolingisches Reich oder um 1500/Renaissance oder erst in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, als erstmals ein Begriff und Konzept von "europäischer Zivilisation" entsteht –, es ist immer die Vielfalt, die zuerst ins Auge springt. Das mit der "gemeinsamen Abstammung" ist in meinen Augen eine Legende. Wo kamen denn die Menschen her, die Europa bevölkerten? Ich zähle das jetzt nicht auf, das sprengt den Rahmen. "Die" europäische Kultur ist schon in der Antike eine Mischung aus unendlich vielen kulturellen Zutaten aus allen möglichen Regionen. Was europäische Kultur ausmacht, ist die Fähigkeit, diese Vielfalt, die aus aller Welt kommt, in einen funktionierenden Sinnzusammenhang zu bringen.

Wolfgang Schmale: Das sehe ich wie Sie. Die Forderung von Offenheit an Einwanderer finde ich notwendig. Dazu gehört, das zu ermöglichen. Menschen müssen sich entfalten können, das wird aber in den meisten europäischen Ländern durch eine entsprechend restriktive Politik immer mehr verhindert. Basales pädagogisches Wissen, das in Europa in Überfülle vorhanden ist, wird in den Mistkübel gekehrt, wenn es nicht um Europäer geht. Das schafft zunehmend Probleme im Voraus, das ist wohl auch die Absicht, um anschließend noch restriktiver sein zu können. Immerhin kann man am Absturz der ehemaligen Absolute-Mehrheit-Partei namens CSU in Bayern sehen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sehr viel mehr Augenmaß besitzt.

Wolfgang Schmale: Mit dem ersten Teil des Postings bin ich einverstanden. Den Begriff "rückschrittliche Kulturen" würde ich nicht verwenden. Wer bestimmt, was fortschrittlich, was rückschrittlich ist? Gut, im globalen Zeitalter, wo alle Kulturen zunehmend verflochten werden, kann das nicht mehr unabhängig oder autonom geschehen, aber das ist ein Aushandlungsprozess, der konfliktreich ist. Falls Sie auf das anspielen wollen, was Flüchtlinge, oder sagen wir allgemein Migranten kulturell mitbringen, lehne ich jede Pauschalisierung ab. Jeder Mensch hat eine individuelle Biografie, nicht nur eine kulturelle Sozialisation in irgendeiner Gemeinschaft. Das, was Probleme schafft, sind die hegemonial-männlichen, manchmal etwas naiv auch als patriarchalisch bezeichneten Machtstrukturen in Familien und größeren Gemeinschaften. Die baut man aber sicher nicht dadurch ab, dass man genau dieselben toxischen Herrschaftsmechanismen wieder aktiviert, wie das in Europa derzeit geschieht. Das ist ein Widerspruch in sich, der zu Misserfolg führt.

Wolfgang Schmale: Was soll "nicht dulden" in der Praxis bedeuten? Im Grundsatz stimme ich Ihnen zu; aber muss man nicht den "Streit" suchen, um etwas zu verändern? Eine Religion ändert sich mit den Menschen, wenn sich deren Lebenskontext ändert. Das bringt erhebliche Konflikte mit sich, aber in allen großen Religionen gibt es Menschen, die dafür kämpfen, dass allfällige Totalitarismen oder Absolutheitsansprüche abgebaut und beseitigt werden, die dafür kämpfen, dass (ihre) Religion sich reformiert und modernisiert und, um es deutlich zusagen, demokratisiert.

Wolfgang Schmale: Sehr treffende Beschreibung! Ich bin, was die Wahlergebnisse der letzten ein bis zwei Jahre in Europa angeht, etwas optimistischer, weil das Bild doch – ja, eben – vielfältig ist. "Chemnitz" hat vielen, nicht nur in Deutschland, die Augen geöffnet, was eigentlich vorgeht. Ich glaube auch nicht, dass zum Beispiel ein Salvini und die Lega in Italien sehr lange auf ihrer augenblicklichen Zustimmungswelle reiten werden. Es wird der Moment kommen, wo allen wieder auffällt, dass die Müllbeseitigung eben trotzdem immer noch nicht besser funktioniert und dass das gar nichts mit Flüchtlingen zu tun hat; dass die Wasserversorgung immer noch nicht dem entspricht, was man von der viertgrößten Volkswirtschaft der EU als Standard erwarten könnte. Dass die Infrastruktur noch maroder als anderswo ist, und dass das alles nichts, gar nichts mit Flüchtlingen zu tun hat.

Wolfgang Schmale: In den Augen mancher bin ich vielleicht ein "Heimatloser", weil ich in verschiedenen europäischen Ländern gelebt und gearbeitet habe. Aber das heißt ja nicht, den Bezug zur früheren Heimat, zum Beispiel der Kindheit, zu verlieren. Ich erlebe das positiv: Es ist in Europa nicht so schwer, mehr als einmal eine neue Heimat zu finden, und niemand zwingt mich dazu, eine frühere Heimat aufzugeben. Das ist eine Bereicherung. Ich sehe nicht, dass das etwas mit "Elite" zu tun hat. Seit Jahrhunderten gibt es in Europa Arbeitsmigration. Das gehört zu Europa wie der gotische Dom. Alle diese Millionen von Arbeitsmigranten der Geschichte und der Gegenwart sind nicht heimatlos. Sie haben zwei Heimaten. (Wolfgang Schmale, 11.10.2018)