Laut Wolfgang Mazal steht es niemandem zu, die Kinderanzahl anderer Familien zu bewerten.

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Zwei Kinder sind das Ideal unserer Gesellschaft, die Realität sieht manchmal anders aus.

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"Ein Kind ist kein Kind, und zwei Kinder sind drei Kinder" – die Phrase wird in Foren und Blogs oft kommentiert. Für Ein-Kind-Eltern mag das unfair klingen, den anderen gibt es zuweilen die Bestätigung, dass sie den familiären Aufwand mit einem zweiten Kind womöglich unterschätzt haben. Was es mit der Aussage auf sich hat und wie viel Mehraufwand mehr als ein Kind bedeutet, beantwortet Wolfgang Mazal, Leiter des Österreichischen Instituts für Familienforschung und Vorstand des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien.

STANDARD: Viele Blogs und Elternplattformen beschäftigen sich damit, dass zwei Kinder unverhältnismäßig mehr Aufwand sind als eines. Ist das so, oder läuft ein zweites einfach so mit, was ja auch oft behauptet wird?

Mazal: Man kann nicht sagen, zwei Kinder sind drei. Es liegt aber auf der Hand, dass die rein zeitliche Belastung und der finanzielle und emotionale Aufwand mit zwei Kindern größer sind als mit einem. Die Frage ist, ob das linear zunimmt oder nicht. Das hängt davon ab, wie das zweite Kind ist, wie der Altersunterschied ist. Hat eines etwa Lernschwierigkeiten, wird es noch schwieriger. Als Vergleich: Zwillinge sind vom ersten Tag an eine sehr große Belastung, weil man sie nicht synergetisch behandeln kann. Einmal oder zweimal wickeln oder stillen ist eine lineare Geschichte. Wenn das zweite Geschwisterkind aber schon selbst essen kann, kann man das zweite parallel füttern. Finanziell schlägt sich ein weiteres Kind relativ bald in einem größeren Wohnaufwand nieder.

STANDARD: Was wird beim zweiten Kind am meisten unterschätzt?

Mazal: Der zeitliche und der emotionale Mehraufwand werden immer unterschätzt. Die Konkurrenz zur Erwerbstätigkeit, zur Eigenverbrauchszeit und der Zeit mit dem Partner wird einfach immer größer. Mit dem dritten Kind wird die volle Erwerbstätigkeit meist nicht mehr möglich sein. Was oft vergessen wird: Auch wenn die Kinder in voller Fremdbetreuung sind, kann der emotionale Aufwand steigen. Einerseits weil manche Eltern ein schlechtes Gewissen haben, andererseits haben Kinder in Vollbetreuung oft sogar mehr Bedarf, sich gegenüber ihren Eltern zu artikulieren und ihre Erfahrungen mitzuteilen. Ein einjähriges Kind kann ja nicht einmal sagen, ob es ihm in der Kinderbetreuung gut geht, und reagiert vielleicht mit Schlafstörungen oder ADHS, wenn dem nicht so ist. Bei größeren Kindern hilft viel reden, damit es Erlebnisse nicht in sich hineinfrisst. Wenn das alles die Zeit für sich und mit dem Partner wegfrisst, wird es schwierig.

STANDARD: Familien, die zwei Kinder haben, erleben den Alltag mit einem oft als große Entlastung – etwa wenn eines auf Ferien bei den Großeltern ist. Ist es mit einem Kind tatsächlich so viel einfacher?

Mazal: Das subjektive Empfinden der Entlastung ist zwingend, weil es eben ein geringerer Aufwand ist. Man hat mehr Zeit für das eine Kind, den Partner und für sich selbst. Man sollte aber keinesfalls die Situation anderer Familien lächerlich machen, denn man kann nicht sagen, "nur" ein Kind, das ist nicht gerechtfertigt. Immer wieder sagen Frauen zu mir: "Ich habe ja nur ein Kind." Ich antworte immer: "Moment! Ein Kind!" Es steht niemandem zu, das zu bewerten. Jeder muss das für sich Passende machen. Wenn jemand froh ist, mit einem Kind über die Runden zu kommen, weil sonst die Partnerschaft kippt – oder auch, wenn es nicht begründet wird –, dann ist das so zu respektieren und wertzuschätzen.

STANDARD: Warum gibt es in unserer Gesellschaft das Zweikindideal?

Mazal: Da tut sich etwas, aber nach wie vor dominiert das gesellschaftliche Ideal, zwei Kinder zu haben. Woher das genau kommt, weiß niemand. Es mag mit der Natur zu tun haben, die uns diesen Wunsch eingeimpft hat, um unseren Bestand zu erhalten. Aber wahrscheinlich ist es etwas anders: Es hängt wohl mit gesellschaftlich kommunizierten Bildern zusammen. Einerseits kriegen Sie eher noch eine Wohnung für vier Leute, ab fünf wird der Wohnungsmarkt schon dünner. Auch Ferienbuchungsplattformen avisieren Zimmergrößen meist in Zweierschritten. Umgekehrt nimmt der Kinderwunsch gerade bei jenen ab, die selbst als Einzelkinder aufgewachsen sind. Das dürfte auch mit der eigenen Erfahrung zusammenhängen: Sie hatten keine Konkurrenten, mussten nichts teilen, sie sind die alleinigen Erben.

STANDARD: Aber gibt es auch eine Kehrseite?

Mazal: Ich beschäftige mich sehr mit der Forschung in Asien. Meine chinesischen Freunde sagen, dass ein Kind ein Risiko für die eigene Versorgung im Alter ist. Was ist, wenn dem einen Kind etwas passiert? Außerdem lastet auf den Einzelkindern, die heute alte Eltern haben, die ganze Verantwortung von Betreuung und Pflege. Auch die Frage der Sozialisation ist mitzubedenken: Vielleicht schadet es gar nicht, mit Konkurrenz schon zu Hause umgehen zu lernen. Die Chinesen nennen ihre Einzelkinder little princes. Sie sagen, dass sie zum Teil völlig auf Egotrip sind. Sie fürchten sich sogar, dass diese sie im Alter vielleicht nicht nur nicht unterstützen, sondern vielleicht sogar Euthanasiedebatten führen.

STANDARD: Laut Statistiken gibt es aber gar keinen Trend zum Einzelkind, rund 50 Prozent der Haushalte mit Kindern haben ein Kind, und das ist seit den 1960ern ziemlich gleich geblieben. Fast 38 Prozent haben zwei Kinder, was eine Steigerung bedeutet. Was sagen diese Zahlen aus?

Mazal: In der Analyse von Statistiken muss man aus mehreren Gründen immer vorsichtig sein. Selbst wenn eine Familie vier Kinder hat, gibt es am Anfang einen Einkindhaushalt und am Schluss auch wieder. Deswegen ist die Zahl der Einkindhaushalte auch immer relativ groß. Da kann ein statistischer Bias drinnen sein. Dass die Zahl der Zweikindfamilien angestiegen ist, ist auch auf einen Rückgang früherer Dreikindfamilien zurückzuführen. (Marietta Adenberger, 11.10.2018)