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Bereit zum Einmarsch ins Nachbarkinderzimmer

Foto: Christian Ammering / picturedesk

Den verschwenderischen Umgang mit ihren Keimzellen soll man der ersten Nachkriegsgeneration hoch anrechnen. Leider stellten unsere Erzeuger rasch fest, dass es nach Aushändigung der Lendenfrüchte mit der schönen Ruhe – im Klappbett daheim, aber auch draußen, am gurgelnden Wienfluss – rasch wieder vorbei war.

Kaum dass ihnen ihr Irrtum bemerklich geworden war, reagierten die Erziehungsberechtigten mit beleidigter Konsequenz. Wann immer ich, ein klitzekleiner Babyboomer, Gleichaltrige im Beisein von Erwachsenen beobachtete, stach mir das dröhnende Schweigen der Piepmätze, meiner Verwandten im Geiste, ins Ohr.

Fiel es einem Dreikäsehoch ein, in der Straßenbahn harmlos Krach zu schlagen, schnitt ihm die Mama wütend das arglos gelallte Wort ab: "Wirst du wohl ruhig sein ..." Erst später begriff ich, dass die Generation derer, die den Krieg noch erlebt hatten, sich möglichst ungestört an der Stille des eigenen Schweigens satthören wollte.

Stöhnende Tramway

Dabei fiel der Blick dieser Lärmempfindlichen auf graue Fassaden, deren Löcher im Verputz an die Narben von Aknekranken erinnerten. Die alten Trambahnen stöhnten in den Kurven wie Gebärende im Wochenbett.

Man kann sagen, dass wir Kinder für den Verlautbarungsstopp im Alltag von den Verantwortlichen einigermaßen schadlos gehalten wurden. Man deckte uns mit formschönem Kriegsspielzeug ein, bis die Kisten in den Kinderzimmern platzten. Revolver mit und ohne Stöpsel, MPs, die Lärm spuckten wie Lungenkranke im finalen Stadium: Uns kleinen Eroberern fehlte es an nichts. Wir hätten, der Idee nach, sofort in ein benachbartes Kinderland einmarschieren können. Doch dort wartete die nämliche Feuerkraft auf ihre mündliche, das heißt spuckend-lautmalerische Bestätigung.

Heute, wo die Kinder sich vielleicht lieber ein Lichtschwert von Luke Skywalker wünschen oder einen Avenger, könnten wir sagen: Wir Babyboomer hätten damals, Ende der 1960er, Anfang der 1970er, bloß unsere Pflicht erfüllt. Aber meistens ziehen wir es ohnedies vor, über diese Epoche in unserem Leben striktes Stillschweigen zu bewahren. (Ronald Pohl, 10.10.2018)