"Für die Menschen, die wirklich was verlieren könnten, wenn sie auf die Straße gehen, lohnt sich die Rechnung nicht. Ihnen geht es einfach noch nicht schlecht genug": Dmitry Glukhovsky über Russland.

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Im Alter von 18 Jahren begann Dmitry Glukhovsky seinen ersten Roman zu schreiben. "Metro 2033", eine dystopische Science Fiction-Geschichte, wurde seitdem in mehr als 20 Sprachen übersetzt, es folgten zwei Fortsetzungen und eine weltweit erfolgreich Videospiel-Umsetzung. Nun legt der heute 38-jährige Russe mit "Text" (Europa Verlag) seinen ersten Politthriller vor.

STANDARD: Bis jetzt haben Sie mit einer sehr erfolgreichen Science Fiction-Serie weltweit für Furore gesorgt. Warum also nun ein Roman, der sich an der russischen Wirklichkeit orientiert?

Glukhovsky: Die Metro-Serie hat mir wirklich Spaß gemacht. Aber das Schreiben von Science-Fiction ist mir etwas zu langweilig geworden. Und in der vergangenen Jahren wurde mir immer bewusster, dass das Leben in Russland viel fantastischer als in jedem Fantasy-Roman ist. Die politische und soziale Realität ist viel bizarrer, als ich mir das jemals hätte ausdenken können. Meine Idee war es also, eine Geschichte zu schreiben, die diese Realität sehr präzise wiedergibt. Gleichzeitig sollte es eine Art Zeitkapsel sind, die man in der Erde vergräbt und mit der künftige Generationen verstehen können, wie die Gesellschaft, wie das Land funktionierte.

STANDARD: Und wie funktioniert die russische Gesellschaft laut Ihrer Geschichte?

Glukhovsky: Das wesentliche Thema des Buches sind die zwei Kasten, die es in Russland gibt. Kasten wie in der indischen Gesellschaft. Auf der einen Seite sind da die Mächtigen, die immer den Reis bekommen, solange sie zum System gehören. Und dann sind da diejenigen, die keine Macht haben, die auch keine Chance haben, nach oben zu kommen, weil sie von den Mächtigen unterdrückt werden und ihnen hilflos ausgeliefert sind.

STANDARD: In Ihrem Roman werden diese beiden Gruppen von den Hauptfiguren verkörpert.

Glukhovsky: Richtig. Ilja kommt aus dem Knast, niemand wartet auf ihn. Er hat keine Zukunft. Im Gefängnis ist er gelandet, weil ihm ein Drogenfahnder ein Päckchen untergejubelt hat. Ilja hatte sich erdreistet, seine Freundin zu verteidigen, als dieser Petja sie angemacht hat. Ilja kommt also nach sieben Jahren aus dem Knast frei und bringt denjenigen um, der ihm die Zukunft geraubt hat. Dieser Petja war nicht nur Teil des Systems, sondern er hat das System – wie das die Mächtigen in Russland eben tun – gleichzeitig ausgenommen. Er hat die Drogen, die er als Polizist konfisziert, weitervertickt.

STANDARD: Ilja nimmt nach dem Mord das Telefon von Petja an sich und lebt dessen Leben weiter.

Glukhovsky: Das Smartphone ist ein Schlüsselelement unserer heutigen Realität und unserer Identität. Wir kommunizieren damit, wir speichern damit Fotos, Textbotschaften, Dokumente, Chats, Videos, die Aufschluss über unsere Beziehungen zu anderen Menschen geben. Sie sind ein Teil unserer Erinnerung, mit der sich ein Leben einigermaßen nachvollziehen und die einen Blick in die menschliche Seele erlaubt.

STANDARD: Ilja verlässt die Welt des Unschuldigen und wird selbst zum Teil des Systems. Scheint so, als wollten Sie damit die Frage der Moral stellen.

Glukhovsky: Ja. Für mich standen Fragen nach Moral und Amoral im Vordergrund. Denn Ilja rächt sich ja nicht nur an Petja dafür, dass er ihn unschuldig sieben Jahre in den Knast gebracht hat, sondern er spielt die dreckigen Spiele dieses Menschen weiter, der als Vertreter der Kaste der Mächtigen jenseits von moralischen Fragen Leben zerstört und Verbrechen begeht. Am Ende stellt sich natürlich die Frage, was gut und böse ist, in so einem System, das derart schicksalhaft verwoben ist.

STANDARD: Kritiker in Russland, von denen sich viele begeistert gezeigt haben von Ihrem Buch, sahen in Anleihen von Dostojewskis "Schuld und Sühne" bzw. "Verbrechen und Strafe", wie der Roman richtig übersetzt heißt. Hatten Sie Absichten, dem großen Kollegen nachzueifern?

Glukhovsky: Das hat mir natürlich geschmeichelt. Die Frage der Moral taucht aber nicht nur bei Dostojewski auf, sie taucht in vielen literarischen Arbeiten auf, weil sie von universeller menschlicher Natur ist.

STANDARD: In Russland ist "Tekst" ein großer Erfolg. Vielleicht weil sie die russische Realität so präzise beschreiben?

Glukhovsky: Viele Leser haben tatsächlich geglaubt, dass das Buch auf einer wahren Begebenheit beruht. Und das ist auch kein Wunder, denn in Russland gibt es sehr viele Fälle von jungen Menschen, die wegen Drogenmissbrauchs- oder handels verurteilt werden – eben weil der Staat da mit einer Null Toleranz-Politik handelt. Nicht jeder hat so eine schlimme Sache wie Ilja durchgemacht. Aber dass man von Behörden oder Beamten gegängelt wird, haben wohl schon die meisten im Alltag erlebt.

STANDARD: Entsprechend groß ist Identifikationsfläche für den Leser?

Glukhovsky: Ilja, der Hauptheld der Geschichte kommt aus einer einfachen Familie, hat aber russische Philologie studiert und russische Literatur. Er hat all diese Literatur Zuhause, die den Russen ihre Werte und ihre Prinzipien beibringt. Und dann gerät dieser moralisch gut geerdete junge Mann in einen Konflikt mit der Polizei, was jeden in Russland passieren kann. Das kann einen politischen oder einen persönlichen Hintergrund haben. Der normale Bürger ist diesem amoralischen System schutzlos ausgeliefert. Und das macht dieses Buch so politisch, weil es die Hilflosigkeit der einfachen Menschen einerseits und die Skrupellosigkeit des Apparats andererseits aufgreift und so den Machtmissbrauch des Systems thematisiert. Diejenigen, die zur Kaste der Mächtigen gehören, geben jegliche Form von Moral auf. Sie lügen, manipulieren, sie nutzen andere aus. Sie wollen nicht ihr Recht aufgeben, von anderen zu stehlen. Nichts anderes tut Putin. Er besitzt das Land ja nicht nur politisch, sondern auch finanziell. Denn seine engsten Freunde beherrschen die Bauindustrie oder das nationale Fernsehen. Das ist doch alles verrückt.

STANDARD: Dennoch können Sie solche kritischen Bücher veröffentlichen. Die Literatur wird vom Machtapparat offensichtlich als nicht besonders einflussreich gewertet.

Glukhovsky: Das System Putin lässt sich nicht in schwarz-weißen Formel erklären. Mein Buch wird sogar verfilmt, und zwar in Russland, das staatliche Fernsehen zeigt im Moment sogar Interesse, sich an der Finanzierung zu beteiligen. Aber Bücher spielen einfach keine große Rolle in Russland. Der Bestseller des vergangenen Jahres beispielsweise hat sich gerade 100.000 mal verkauft. Es gibt eine handvoll Schriftsteller wie Sorokin oder Akunin, die sich offen politisch äußern und das auch in ihren Büchern thematisieren. Aber insgesamt ist die Literatur ein zu kleines Licht. Die meisten Leute schauen diese Talkshows im Fernsehen – sie sind das mächtigste Instrument, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Mein Buch ist lang, es ist schwierig zu verdauen. Deswegen wird es von den Mächtigen nicht als einflussreiche Plattform angesehen. Ganz im Gegensatz zu VKontakte, wo man für das Reposten von kritischen Informationen im Knast landen kann.

STANDARD: Vor ein paar Wochen gingen tausende in Russland auf die Straße, als sie gegen die Erhöhung des Rentenalters demonstrierten. Anscheinend ist der moralische Verfall noch nicht so weit fortgeschritten.

Glukhovsky: Der moralische Verfall zeigt sich vor allem bei den älteren Generationen, die kaum an den Protesten teilnehmen. Sie glauben nicht mehr daran, dass sie etwas zum Guten verändern können. Man muss auch verstehen: Das System Putin ist bei weitem nicht so repressiv wie eine echte Diktatur. Das heißt: Für die Menschen, die wirklich was verlieren könnten, wenn sie auf die Straße gehen, lohnt sich die Rechnung nicht. Ihnen geht es einfach noch nicht schlecht genug. Auch die Sanktionen haben nicht dazu geführt, dass die Menschen sagen: Jetzt geht es uns so schlecht, weil Putin die falsche Politik macht. Ganz im Gegenteil: Viele glauben an diese skrupellose Weltmachtpolitik, die Putin für sie verkörpert. Sie glauben an den starken Mann. Nach Jahrzehnten in der Sowjetunion, in der sie diese Machtpolitik als erstrebenswert kultiviert haben, sind die Älteren dankbar, wenn einer wie Putin ihnen die Rückkehr Russland als Weltmacht verspricht.

STANDARD: Aber anscheinend zieht es die jüngeren Menschen auf die Straße, weil sie eben nicht an diese aggressive Machtpolitik glauben wollen.

Glukhovsky: Viele der besser gebildeten jungen Russen in den Städten stehen unter dem Einfluss von Nawalny, der die neuen Technologien wie Videoblogging und die sozialen Medien nutzt, um Leute zu mobilisieren. Er spricht die Sprache der jüngeren Leute. Und die haben die Korruption im Land satt. Und sie wollen sich den Mächtigen nicht mehr hilflos ausgeliefert fühlen. Nawalny bringt den jungen Leuten auch bei, dass sie keine Angst haben müssen, dass sie selbstbewusst sein können. Er zeigt ihnen, dass es ihrem Ruf nach Selbstbestimmung hilft, wenn sie ihre Stimmen auf die Straßen tragen. Das macht er alles sehr gut. Aber das reicht bei weitem nicht, um etwas im Land zu verändern. (Ingo Petz, 10.10.2018)