"Dawn Wall" (Deutscher Filmtitel: "Durch die Wand") ist der zweite Kletterfilm mit Caldwell und läuft gerade im Kino.

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Nach sechsjähriger Vorbereitung gelang Tommy Caldwell (Bild) gemeinsam mit Kevin Jorgeson 2015 der Erstaufstieg an der Kletterroute Dawn Wall im Yosemite-Nationalpark.

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Die Wand ist glattflächig, atemberaubend steil und bietet kaum Flächen zum Festhalten.

Ein Blick auf die Hände verrät viel über einen Menschen. Die von Tommy Caldwell sind dick, aber nicht groß. Bei dem US-Amerikaner kommen die Wurstfinger aber nicht vom übermäßigen Essen, sondern vom exzessiven Klettern. Caldwell und Kevin Jorgeson haben als erste Menschen eine der schwierigsten Kletterroute der Welt bezwungen, die Dawn Wall am Fels El Capitan im kalifornischen Yosemite-Nationalpark.

Eine senkrechte Wand, 32 Seillängen bis zum Gipfel über blanken, glatten Fels. Teilweise sind die wenigen Griffe nicht breiter als eine Fünf-Cent-Münze. Die Kletterer hingen ganze 19 Tage in der Wand, schliefen kaum, ernährten sich von Nüssen und Pfirsichen aus der Dose und verrichteten ihr Geschäft in Plastiksackerln.

Ganz Amerika inklusive des damaligen Präsidenten Barack Obama huldigte den beiden, es war fast wie bei der Mondlandung. Drei Jahre danach ist "Dawn Wall" in den Kinos angelaufen, ein Film, der fast genauso gescheitert wäre wie Caldwell an seiner Obsession.

Willenskraft

Sieben Jahre lang versuchte Tommy Caldwell auf den El Capitan hinaufzuklettern, erst 2015 gelang der Aufstieg. "Für Außenstehende sah das allmählich wie ein Hemingway-Roman, wie eine unendliche Suche aus", sagt der 40-Jährige, den wir in einem Wiener Hotel treffen. An der linken Hand fehlt ihm der Zeigefinger.

Mit 23 Jahren, damals war er bereits ein Profikletterer, sägte er sich bei Renovierungsarbeiten an seinem Haus in Estes Park im Bundesstaat Colorado den Finger ab. Mehrere Versuche, ihn wieder anzunähen, scheiterten. Der Arzt meinte, das wird wohl nichts mehr mit dem Klettern. "Ich dachte mir, scheiß auf den. Der weiß nicht, was ich drauf habe", sagt Caldwell. Ein Jahr später kletterte er Routen, die er mit zehn Fingern nie geschafft hatte.

Der Aufstieg auf die Dawn Wall war schließlich der Höhepunkt eines Lebens, welches geprägt ist von der Überwindung schwerer Hindernisse. Der Mann hat nicht nur Felsen im Kopf.

Grenzerfahrung

Sein großes Lebenstrauma erlitt Caldwell, ein Jahr bevor er seinen Finger verlor. Er, seine damalige Freundin und zwei Begleiter wurden in Kirgisistan von islamistischen Rebellen als Geisel genommen. Nach sechs Tagen und Nächten ohne Essen und Trinken entkamen sie, weil Caldwell einen der Entführer von einer Klippe in die Tiefe stoßen konnte. Unmittelbar nachdem er den Terroristen überwältigt hatte, kauerte er am Boden und weinte hemmungslos. . Kein Action-Movie, sondern Gewalt für die Seele und die Erkenntnis: "Ich konnte jemanden umbringen."

Schlussendlich von der kirgisischen Armee gerettet, fand sich Caldwell mit Selbstvorwürfen und Todesnähe konfrontiert. Später stellte sich heraus, dass der Terrorist den Sturz überlebt hatte und in einer Zelle in einem Gefängnis in Bischkek saß. Ob er diesen Mann wiedersehen wollte? "Ich habe darüber nachgedacht, diese Sache aber dann ruhen lassen. Ich sah keinen Sinn für mich, dort noch einmal hinzufahren."

Lesenswerte Biografie "The Push"

An dem traumatischen Ereignis in Kirgisistan zerbrach schließlich auch die Beziehung zu Caldwells Freundin. Was im Film "Dawn Wall" aber nur in einem Satz angeschnitten wird, erläutert Tommy Caldwell im Gespräch mit dem STANDARD. "Es fühlte sich nach diesem Erlebnis an, als wäre es lebensentscheidend dass wir zusammen sind. Sie hatte große Ängste und dachte sie bräuchte mich dafür, dass sie wieder Vertrauen in diese Welt finden könnte. Das ist keine sehr gesunde Basis für eine Beziehung." Als Therapie gegen den Liebeskummer fuhr er jeden Tag zum El Capitan.

Caldwell ist auch deshalb kein fader Typ Kletterer, weil er in seiner Biografie "The Push: A Climber's Journey of Endurance, Risk, and Going Beyond Limits" schonungslos seine körperliche und geistige Achterbahnfahrt durch sein Leben analysiert: "Der Rhythmus, mit dem man sich in den Bergen bewegt, führt dazu, dass die Ecken und Kanten des eigenen Egos abgetragen werden."

Der Fels gegen Liebeskummer

Was nach Kirgistan folgte, war ein Beziehungs-Aus und eine Konfrontation mit dem Fels gegen den Liebeskummer. Die Trennung führt auch zu einer Krise mit dem eigenen Vater, einst ein Bodybuilder, der Sohn Tommy von Kindesbeinen gepusht hatte, seine körperlichen Schwächen zu überwinden. "Ich war am Boden zerstört, brauchte Ablenkung."

Im Winter bietet das Gestein wegen der Kälte guten Grip zum Klettern. Er studierte den Berg, zeichnete detaillierte Pläne einzelner Abschnitte, seilte sich von oben ab, um Griffe und Tritte zu erspähen. Nachts lag er in seinem Zelt und weinte. Die Wand war ein unwirtlicher Ort, aber Caldwell blieb. Und gab am Ende eines jeden Winters doch wieder auf.

Hier hätte die Geschichte zu Ende sein können. Aber Caldwell ließ sich während seiner Jahre des Scheiterns an der Dawn Wall von einem Videoteam begleiten, das hauptsächlich aus Vergnügen einen Film über ihn drehte. Durch diese Aufnahmen wurde Profikletterer Kevin Jorgeson zufällig auf Caldwell aufmerksam und kontaktiert diesen.

Als sie die letzten Seillängen in der Dawn Wall hinter sich hatten, waren ihr Gesichter wild von Bart verwachsen, sie stanken wie Iltisse, oben am Fels warteten Schaulustige, Reporter und die eigenen Familien und verschütteten Champagner wie in der Formel 1. Caldwell nimmt von seinen Touren neben Erfolgen und Blessuren auch Philosophisches mit: "Beziehungen zwischen Menschen sollen dem Prinzip des Abenteuers folgen. Das beschränkt sich aber nicht auf das Klettern. Es geht darum, das Unbekannte mit offenen Armen zu begrüßen." (Florian Vetter, RONDO, 16.10.2018)

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