Seit Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls konnten die wenigsten Länder ihre geplanten Emissionsreduktionsziele erreichen. Ein verringerter Ausstoß an Treibhausgasen war meist direkte Folge der Finanzkrise 2008, nicht das Ergebnis klimapolitischer Bemühungen. Der Politikwissenschafter Roger Pielke Jr. nennt dies das eiserne Gesetz der Klimapolitik.

Die Kohlenstofftechnokratie

Ein Grund für das Scheitern dieser Politik liegt in der Priorisierung eines gewissen – gut gemeinten – technokratischen Ansatzes, nennen wir ihn Kohlenstofftechnokratie. Mit dem Ökonomen William Nordhaus, Erfinder des Zwei-Grad-Temperaturziels, bekam dieser Ansatz heuer den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen. Im Mittelpunkt seiner Forschung stehen sozioökonomische Modelle, auf deren Basis Politik gemacht wird. Die daraus abgeleiteten Entscheidungen reproduzieren jene sozioökonomische Ordnung, die bislang ihre eigenen Emissionsziele verfehlt hat. Der Input bestimmt den Output.

Kohlenstofftechnokratie basiert auf der Annahme, dass bestimmtes menschliches Verhalten unabänderlich und universell ist, während das Erdsystem nach Belieben verändert – kalibriert – werden kann. Die Metapher eines globalen Thermostats steht für diese Denkschule: Viele Menschen sind überzeugt davon, dass wir an einem globalen Temperaturregler drehen könnten. Die wirtschaftlichen und politischen Strukturen der Industriegesellschaften und deren Menschenbild hingegen werden als selbstverständlich betrachtet und in sozioökonomischen Modellen als weitgehend konstant angenommen. Damit wird der Temperaturanstieg zu selbsterfüllenden Prophezeiung.

Beim Klimawandel geht es um viel mehr als nur den CO2-Ausstoß.
Foto: APA/AFP/DAVID MCNEW

Ignoriert werden historische Fakten rasanten politischen und gesellschaftlichen Wandels. Beispielsweise wäre die industrielle Förderung fossiler Brennstoffe ohne soziale Innovationen, etwa jener ungedeckter Kredite, dieser Wertschöpfung aus dem Nichts, nicht möglich gewesen. Parallel dazu entwickelte sich der industrielle Arbeitsethos, der heute in anachronistischen Rufen nach Vollbeschäftigung weiterlebt und im Burnout ausbrennt. Eine Abkehr von diesem Krisen provozierenden, energieintensiven System kommt in den gängigen sozioökonomischen Zukunftsvorstellungen nicht vor. Innovation wird primär als technologische Variante, nicht als gesellschaftliche Möglichkeit verstanden.

Klimapolitik ist Demokratiepolitik

Die Kohlenstofftechnokratie sei ein wissenschaftlicher, von Moral befreiter Imperativ. Ein Irrtum! Die Wissenschaft verlangt nichts. Es sind immer Menschen, die verlangen, die Forderungen stellen. Jede Geschichte, jeder Bericht zum Klimawandel hat eine Moral. Oft geht es um Maß und Maßlosigkeit: Wie viel ist genug? Wer hat zu wenig, wer zu viel? Diese Fragen lassen keinen Stammtisch kalt. Doch hat die Kohlenstofftechnokratie aus diesem moralischen Sturm und der kollektiv zu führenden politischen Debatte eine individuelle Herausforderung im Sinne einer Carbon Footprint Challenge gemacht. 

Das bekannteste Beispiel einer moralischen Lektion ist die Umwelt- oder Klimaenzyklika genannte "Laudato Si" von Papst Franziskus. Auf 200 Seiten erwähnt er "CO2" fünfmal, "Armut" 59 Mal. Ähnlich argumentieren Klima- und Sozialwissenschafter im bereits 2010 erschienenen Hartwell-Paper der London School of Economics. Sie erkennen die Menschenwürde als zentrales Element der Klimapolitik und fordern den Zugang zu Energie für alle. Diese Forderung öffnet eine politische Debatte, die Kohlenstofftechnokraten nur unter Auflage der berechenbaren Emissionsreduktion zulassen würden. Doch geht es den Wissenschaftern wie auch dem Papst weniger (aber auch) um die Art der Energiegewinnung. Wie viel genug ist, wer zu viel und wer zu wenig hat, kann nur demokratisch bestimmt, nicht wissenschaftlich festgelegt werden. 

Selten wird der Ausbau der Demokratie als klimapolitische Maßnahme erkannt. Sofort denkt man an Kohlenstoffmoleküle und zweifelt an diesem Vorschlag, da sich die Emissionsbilanz von Demokratie nicht errechnen lässt.

Ähnliches gilt für Reformen im Geldsystem, etwa der in der Schweiz zur Abstimmung gebrachten und vorerst abgelehnten Vollgeldinitiative, die die Geldschöpfung wieder unter Kontrolle des Souveräns bringen möchte. Wie ungedeckte Kredite die industrielle Revolution beschleunigten, so würde Vollgeld schwer berechenbare Auswirkungen auf den CO2-Metabolismus von Gesellschaften haben. CO2-Reduktion ist nicht die Maxime von Demokratiepolitik, sie könnte sehr wohl ihr Nebeneffekt sein. 

Die Moral von der Geschichte

21 Jahre nach Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls wird 2018 die höchste atmosphärische CO2-Konzentration seit Tausenden von Jahren gemessen werden – Tendenz steigend. Die Moral dieser wissenschaftlichen Tatsache ist uns längst bewusst. Doch zeigt die diesjährige Vergabe des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften, dass häufig noch getan wird, als ob. Als ob man die Moral von der Geschichte ignorieren könnte. Als ob es nur um Kohlenstoffdioxid und technologische Innovation ginge. (Mathis Hampel, 15.10.2018)

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