Kassandra von "Assassin's Creed Odyssey" ...

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und Lara Croft aus "Shadow of the Tomb Raider".

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Sie haben meistens lange Haare, sehen eigentlich immer gut aus und wissen sich mit jeder Menge Gewalt, aber auch Köpfchen durchzusetzen – und sie sind nach wie vor die Ausnahme in der männerdominierten Welt der Videospiele. Weibliche Heldenfiguren wie Lara Croft aus der Tomb Raider-Reihe, Aloy aus Horizon: Zero Dawn, Faith aus Mirror’s Edge und Samus Aran aus Metroid sind Games-Ikonen, und das nicht nur bei spielenden Frauen und Mädchen, die sich freuen, selten, aber doch auch mit Protagonistinnen spielen zu können.

Welche Figuren das sind – und wie sie im Medium dargestellt werden -, hat sich vor allem in den letzten Jahren spürbar geändert; weg von oft platt-sexistischer Männerfantasie, hin zu komplexeren Charakteren. Für reaktionäre Teile der Spielerschaft ist das erzwungene Diversität – für alle anderen eine erfreuliche Bereicherung und ein weiterer Schritt hin zur gesellschaftlichen Normalität.

An kaum einer Spielfigur lässt sich dieser Wandel besser demonstrieren als an Lara Croft. Denn die berühmteste weibliche Spielfigur der Welt – Lara hält den Guinness-Buch-Rekord, als virtuelle Figur auf über 1200 Magazintitelseiten gewesen zu sein – hat sich in zwölf Spielen seit 1996 vom Knabentraum mit Riesenvorbau zu etwas völlig anderem verwandelt. Obwohl: So eindimensional, wie das Busenwunder-Image nahelegt, war Lara allerdings nie. Die toughe Archäologin wurde dank Durchschlagskraft und "Girl Power" auch für Frauen ein Superstar – kein Wunder, dass sie im Video zu "Männer sind Schweine" der Spaßpunks Die Ärzte selbigen brutal zu Leibe rückte.

Die Unterschiede zwischen Kassandra und Alexios.
Rydłan

Die neue Lara, eine Leidensfrau

Mit Beginn des Serien-Reboots 2013 war diese ikonische, oft genug erotische Popfigur Geschichte. Stattdessen: die "neue" Lara, in einer Prequel-Trilogie, die erklären sollte, wie aus einer jungen Frau die fast übermenschliche Heldin Lara Croft werden konnte. Nahbarer sollte Lara sein, "realistischer", weniger Comic-Figur und stärker psychologisiert. Der Weg dorthin, so könnte man polemisch und etwas böswillig zusammenfassen, führt durch traumatisches Leid, das das Mädchen zur Frau werden lassen sollte.

Von der schon für den allerersten Teil der neuen Trilogie angedeuteten Idee, Lara wäre unter anderem erst durch eine Beinahe-Vergewaltigung zur toughen Frau "gereift", distanzierte sich Producer Ron Rosenberg zwar in Windeseile, doch das Grundprinzip blieb: Die neue Lara war zuerst ein harmloses Opfer, das erst durch die Grausamkeit der Umstände und ihrer Gegner gezwungen wird, zunehmend selbst Kompetenz zu entwickeln.

Was für ein Unterschied zur Action-Ikone früherer Zeiten! Die alte Lara Croft, wie sie auch von Angelina Jolie in zwei Filmen interpretiert wurde, war eine Mischung aus Indiana Jones und James Bond, sexy, tough und manchmal selbstironisch, eine Kaugummi-Actionheldin – ein Opfer hingegen war sie nie. Die "Neue" hingegen, deren ausführliche Todesanimationen, in Sequenz geschnitten, den unangenehmen Geruch von Torture-Porn verströmen, ist eine in allen drei Teilen regelmäßig blutüberströmte Leidensfrau – stark, so die Weisheit aus der Charakterisierungsmottenkiste, wird eben nur, wer leidet.

Irgendwie ironisch: Der Spielerschaft wurde eine "realistischere" Figur als die alte Lara Croft versprochen, die sich nicht zuletzt auch äußerlich vom vermeintlichen Sexismus der alten Figur unterscheiden sollte – und herausgekommen ist eine Frau, die ihre wieder und wieder detailliert gezeigte Traumatisierung durch in den frühen Spielen beispiellose exzessive Gewalt verarbeitet. Ein in Cutscenes emotionales, stets – kein Wunder – humorloses Opfer, das – so die nur halb gelungene Wendung des bislang letzten Teils – trotz gelegentlicher Zweifel dazu auserkoren ist, zuerst hyperkompetent und dann flugs zur Retterin der ganzen Welt zu werden.

"Shadow of the Tomb Raider" im Trailer.
Tomb Raider

Es geht besser

Psychologisch betrachtet ist der Tausch der alten gegen die neue Lara mehr als platt: Die bedrohliche, sexuell aufgeladene Frauenfigur der Hure wird durch jene der märtyrerhafte unschuldigen Heiligen ersetzt. Man muss kein Feminist sein, um angesichts dieser krampfigen Story- und Charakterisierungsmanöver die Augen zu verdrehen. Statt einer souveränen Actionheldin mit großen Brüsten sei Lara Croft nun eine zwar normal proportionierte, aber dafür traumatisierte Massenmörderin, deren sanfte Zweifel an der eigenen Auserwähltheit von der Spielhandlung restlos beseitigt werden – ein fragwürdiger Tausch.

Gut, dass andere Spieleheldinnen im Gegensatz dazu ohne derartige Dramatisierungen glaubwürdige, sympathische und komplexe Frauenfiguren zeigen – und das bezeichnenderweise ohne sie zu Sexbomben oder Opfern zu machen. Mit Kassandra, der weiblichen, auswählbaren Hauptfigur von Assassin’s Creed: Odyssey ist ausgerechnet Ubisoft, das vor wenigen Jahren noch zu allgemeinem Spott behauptete, weibliche Spielfiguren wären zu aufwendig zu animieren, eine Hauptfigur gelungen, die nicht nur mühelos ihren männlichen Gegenpart an die Wand spielt, sondern auch sonst mit einer Leichtigkeit viel richtig macht, was anderen scheinbar schwer fällt.

Denn Kassandras Frausein ist auf sympathische Art und Weise unspektakulär – eine Normalität, die natürlich auch daher rührt, dass sie als wählbare Figur viel ihrer Geschichte mit einer männlichen Hauptfigur teilt. Darin ähnelt sie der weiblichen Commander Shepard aus der Mass Effect-Reihe. In beiden Spielen bleibt es – im Unterschied zur Tomb Raider-Reihe – dank vieler möglicher Entscheidungen Spielerinnen und Spielern überlassen, wie sie ihre Figur anlegen – ob freundlich, bösartig oder opportunistisch.

"AC: Odyssey" im Trailer.
PlayStation

Gleichberechtigt!

Der Rahmen, den beide Rollenspiele damit vorgeben, ist bewusst gender-unspezifisch gehalten, und just auf diese Art und Weise fast revolutionär gleichberechtigt. Odyssees Kassandra ist eine kompetente, humorvolle, aber auch knallharte Figur, deren familiäres Trauma, das Teil der Handlung ist, eigentlich schon überwunden ist – sie ist weder Opfer noch Superheldin. Die brachiale Überpsychologisierung, wie sie die neue Lara plakativ wieder und wieder im Namen ihrer "Origin Story" durchleiden muss, wird hier unterlassen, und ironischerweise macht sie genau das – Disclaimer: meiner bescheidenen Ansicht nach – zur weitaus interessanteren, weil wirklich "realistischen" Figur. Kassandra ist eine Frau – so what? Und: Sie schafft es tatsächlich, zur Heldin zu werden, ohne plattes Sexsymbol oder Märtyrerin sein zu müssen.

Weibliche Spielehelden sind, wie eingangs erwähnt, noch die Ausnahme, doch das ändert sich zum Glück. Dass sie so wie Kassandra einfach vollständige, interessante und komplexe Charaktere sein dürfen, die eben zufällig Frauen sind, statt auf die eine oder andere Art und Weise wie Lara Croft entweder als Sexsymbol oder aber Opfer diese Weiblichkeit verkörpern zu müssen, wäre ein nächster Schritt. Hin zu einer Spielezukunft, in der es nichts Besonderes mehr ist, Frauen als Heldinnen zu begegnen – auch ohne, dass wir sie zuvor durch die Hölle geschickt haben. (Rainer Sigl, 12.10.2018)