Jedes Jahr, so auch dieses Jahr, feiern Tunesierinnen und Tunesier im Jänner die demokratische Revolution von 2011. Viele Lasten des alten Regimes bestehen aber weiter.

Foto: Imago / Chedly Ben Ibrahim

Sie haben mir die Nase gebrochen, schau, sie ist immer noch schief. Fingernägel haben sie mir auch rausgezogen, mich immer wieder geschlagen und gefesselt und Zigaretten am ganzen Körper ausgedrückt. Ich kann mich noch genau an die ersten Tage erinnern, so etwas vergisst du nicht." Rashed Jaidane ist fast taub und sichtlich gezeichnet von der brutalen Folter durch Tunesiens gefürchteten Sicherheitsapparat. Dennoch erzählt er seine Geschichte ruhig und routiniert.

Heute, 25 Jahre nach seiner Verhaftung, hat er das Selbstbewusstsein, offen darüber zu sprechen. Und er fordert vom tunesischen Staat, die Verbrechen endlich anzuerkennen, die dieser ihm und anderen angetan hat – freilich noch vor der demokratischen Revolution im Jahr 2011.

Jaidane wurde 1993 verhaftet, wochenlang verhört und anschließend für 13 Jahre interniert. Er sei regelmäßig verlegt worden und habe Gefängnisse in Monastir, Gabès und anderen Städten von innen gesehen. Ein "Tourist" sei er gewesen, sagt er dem STANDARD sarkastisch. Am 4. Oktober begann nun in Tunis der Prozess gegen seine Peiniger. Doch diese Anhörung zeigt auch, wie mühsam die Aufarbeitung der Verbrechen der jahrzehntelangen Diktaturen unter Tunesiens Expräsidenten Habib Bourguiba und Zine el-Abidine Ben Ali noch sein wird.

Angeklagte oft nicht da

Nur fünf der zehn Angeklagten in dem von Tunesiens lokaler und nationaler Presse weitgehend ignorierten Prozess sind anwesend.

Doch das allein ist schon ungewöhnlich, denn seit an den 13 für die Übergangsjustiz eingerichteten Spezialgerichten gegen Ben Ali, ehemalige Innenminister und hochrangige Offizielle des Sicherheitsapparates prozessiert wird, glänzen die Angeklagten meist allesamt mit demonstrativer Abwesenheit.

Grundlage der juristischen Aufarbeitung von Polizeigewalt, Folter, Korruptionsverbrechen, aber auch sexueller Gewalt an Frauen, Wahlbetrug, Verschwindenlassen und Hinrichtungen ohne faire Verfahren ist ein Gesetz von 2013, das die Einrichtung einer Wahrheitskommission vorsah. Diese Instanz für Wahrheit und Würde (IVD) konstituierte sich 2014 und ertrinkt seither fast in Arbeit. Rund 62.700 Beschwerden wurden bei ihr bisher eingereicht, ihr Personal hat fast 50.000 Anhörungen durchgeführt.

Grund für diese schiere Masse an Anzeigen ist auch die Tatsache, dass das Mandat der IVD nicht nur die Regentschaft des 2011 gestürzten Ben Ali abdeckt, sondern auch diejenige seines Vorgängers Habib Bourguiba, der Tunesien zwischen 1956 und 1987 autoritär regiert hatte.

Im Mittelpunkt der seit dem 29. Mai laufenden Prozesse stehen staatliche Gewaltverbrechen. "Fast 70 Prozent der Beschwerden drehen sich um Polizeigewalt, Folter oder Misshandlung", sagt Camille Henry von der Anti-Folter-NGO OMCT. In Tunesien gebe es immer noch eine Kultur der Straflosigkeit, so die Mitarbeiterin des OMCT-Büros in Tunis.

Blockade von oben

"Mit Ausnahme eines Falles, der mit einer zweijährigen Bewährungsstrafe endete, haben wir noch immer kein einziges Urteil zu Folter seit 2011 – aber es gab durchaus Veränderungen. Vor 2011 war die Folter systematisch und gut organisiert. Heute gibt es keine systematische Folter mehr, sie ist nicht mehr staatliche Politik." Aber, schränkt Camille Henry dann doch ein, "sie besteht weiterhin hartnäckig und ist noch willkürlicher als zuvor".

Staatliche Stellen torpedieren derweil die Arbeit der IVD und die Prozesse an den Spezialgerichten, wo sie nur können. Alljährlich werden Richterinnen und Richter an neue Posten und weg vom IVD versetzt. "Dieses Jahr wurde fast die Hälfte ausgetauscht. Alle Gerichte sind betroffen, mit Ausnahme der Kammer in Nabeul", so Henry – und das nur vier Monate, nachdem die Gerichte ihre Arbeit aufgenommen haben. Damit werde deren Arbeit aktiv behindert, denn Richterinnen und Richter an diesen Kammern haben eine zusätzliche Ausbildung erhalten, ihre Nachfolger müssen erst wieder neu angelernt werden. Die Fortsetzung laufender Verfahren werde damit verzögert.

Auch Jaidanes Prozess war betroffen. Zwei der fünf Richter wurden ausgetauscht. Vor diesem Hintergrund hatte der Vorsitzende Richter erklärt, er könne die Angeklagten nicht verhören. Jaidane bleibt trotzdem optimistisch. "Wir haben nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen." (Sofian Philip Naceur, 12.10.2018)