Helen Levitt um 1940, aufgenommen von einem unbekannten Fotografen.

Foto: Film Documents LLC © Film Documents LLC / Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln

Helen Levitt wurde 95 Jahre alt und hat viel gesehen. Weltreisen hat sie dafür nicht gemacht, sondern ist durch ihre Geburtsstadt New York gezogen. Als Kind litauischer Einwanderer und Tochter einer kämpferischen Mutter ist es ihr gelungen, beruflich das zu tun, was sie interessant fand: das Leben fotografisch zu fassen zu kriegen.

Nach Anfängen bei einem kommerziellen Porträtfotografen verbrachte Helen Levitt (1913–2009) ihre Zeit in den lebhaften, ärmeren Stadtvierteln des New York der 1930er-Jahre – und "knipste". In Fachkreisen gilt sie heute als eine der spannendsten Exponentinnen der Straßenfotografie. Bekannt ist sie trotzdem nicht. Eine soeben eröffnete Werkschau in der Albertina will das jetzt ändern.

Bewusste Bildkomposition

Was macht Levitts Stil so bemerkenswert? Wer durch die fünf Räume der Ausstellung geht, muss länger hinsehen, um es zu erkennen. Hier spielen Kinder vor Hauseingängen oder auf urbanen Brachen, Erwachsene lungern an Mauern oder zeigen sich geschäftig. Bilder, die die von Massenströmen geprägten Straßenzüge von heute nicht mehr hergeben würden. Denn der öffentliche Raum ist massiv vordefiniert.

Wo Helen Levitt hinblickte, fand sie surreale Bilder.
Foto: Film Documents LLC / Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln

Erst wer länger auf Levitts Bilder blickt, erkennt deren spezielle Art. Es sind nicht die im Vorbeigehen gemachten Schnappschüsse, wie es die Fotografin selbst in ihren raren Interviews weiszumachen versuchte. Wie absichtsvoll Levitt Bildausschnitte wählte und dass Menschen sehr wohl auf die Fotografin reagierten, beweisen erhaltene Negativstreifen, die nun auch die Albertina in die Ausstellung integriert hat. Levitts Blick war vom Surrealismus geprägt, der sich gegen das Unfreie, Normierte und das Funktionierenmüssen in der Epoche der eklatanten Arbeiterausbeutung richtete.

Surrealer Charakter

Gezielt hat Levitt Graffiti oder anarchische Kinderzeichnungen auf dem Asphalt anvisiert, zugleich aber auch den surrealen Charakter performativer Alltagsszenen festgehalten. Gesten, die der Unterdrückung am Fließband entgegenstehen. Eines ihrer populärsten Fotos ist Spider Girl, ein Mädchen, das mit gebeugten Händen und Beinen wie eine Spinne zwischen Gehsteigkante und Auto in der Luft zu hängen scheint.

Weil Henri Cartier-Bresson eine Leica hatte, legte sich Levitt auch eine zu, secondhand. Als der legendäre französische Fotograf und spätere Gründer der Bildagentur Magnum ein Jahr in New York arbeitete (1935), lernte Levitt an seiner Seite. Auch mit Walker Evans und seinem Freundeskreis verband Levitt, die vermutlich ein Talent zum Netzwerken hatte, ein künstlerischer Austauschprozess. Sie alle haben mit unterschiedlichen Akzenten um formale Innovation gerungen.

Parteimitglied der Kommunisten

Obwohl Levitt ihre Arbeit nie als politisch im Sinne einer Anprangerung sozialer Umstände begriffen wissen wollte (sondern als Kunst), sind ihr politische Implikationen nicht abzusprechen. Das Herunterspielen des politischen Aspekts war später in der aggressiven McCarthy-Zeit wohl dem Eigenschutz geschuldet, mutmaßt Walter Moser, Chefkurator der Albertina-Fotosammlung. Levitt war Parteimitglied der Kommunisten.

Helen Levitt durchstreifte das New York der 1930er- und 40er-Jahre.
Foto: New York, 1973 Dye-Transfer-Print Film Documents LLC © Film Documents LLC / Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln

Bereits als Dreißigjährige hatte Levitt eine Einzelausstellung im Museum of Modern Art (MoMa), eine Sensation. Später, als sich Levitt der lange als Werbung verpönten Farbfotografie zuwandte, richtete ihr 1974 ebenfalls das MoMa die allererste Farbfotografieausstellung aus. Auch das wurde in der Rezeption ihres Œuvres lange unterschlagen. Übrigens: Levitt musste ihre Bilder damals mittels Diaprojektor präsentieren, da sie sich die teure Farbausarbeitung der Abzüge finanziell nicht leisten konnte. Als Reminiszenz lässt die Albertina nun in einem Raum achtzig Dias durchklappern.

Helen Levitts Kurzfilm "In the street".
LibraryOfCongress

Knapp am Oscar vorbei

Ein Zwischenspiel gab es: Helen Levitt war auch Filmemacherin, arbeitete sogar kurze Zeit mit Luis Buñuel. Die kommunistische Kultur hat ihr den Zugang zum Avantgardefilm erschlossen. Vor diesem Hintergrund sind auch ihre Schwarzweißfotos mit den dynamischen performativen Szenen lesbar. Man kann man sie als wehmütigen Link zur untergehenden Stummfilmzeit verstehen. Sie weisen zugleich voraus auf ihr eigenes Filmschaffen (Die Albertina zeigt ihren Kurzfilm In the street). Mit dem Dokumentarfilm The Quiet One war sie sogar für einen Oscar nominiert. (Margarete Affenzeller, 12. 10. 2018)