Erasmus-Lehrlinge beim Bundespräsidenten.

Foto: Peter Lechner/HBF

Wenn im Jahrzehnt einer ernsthaften Wirtschaftskrise in Europa und des Erstarkens populistischer und antieuropäischer Parteien mehr als vier Millionen Menschen Auslandserfahrung mit Hilfe des Erasmus-Programms machen können, wird eines klar: Erasmus ist heute eines der wichtigsten Integrationsprogramme des gemeinsamen Europa und leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Identität. Die Generation Erasmus ist in Europa angekommen und wir wissen aus vielen Umfragen, dass sich diese Generation als Bürgerinnen und Bürger Europas versteht und an dieser Union weiterbauen will.

Im Vorjahr konnten wir den 100.000. österreichischen Studierenden, heuer den 8.000. Lehrling, der am Programm teilnimmt, feiern. Erasmus+ wirkt damit nicht nur als Turbo für individuelle Bildungskarrieren, sondern hat mittlerweile eine ganze Generation geprägt: Erasmus+ ist zum Synonym für bildungsbezogene Auslandsaufenthalte geworden und immer mehr Bürgerinnen und Bürger wissen auch, dass dies längst nicht mehr nur den Studierenden vorbehalten ist.

Zugang erleichtern

Die Europäische Kommission hat Ende Mai ihre ambitionierten Vorschläge für die nächste Programmgeneration 2021–2027 präsentiert: Mit einem doppelt so hohen Budget sollen bis 2027 dreimal so viele Personen, also zwölf Millionen Europäerinnen und Europäer, vom Programm profitieren. Die signifikante Erhöhung ist auch eine Anerkennung der Bedeutung des europäischen Bildungsraums für die wirtschaftliche, soziale und politische Zukunft der EU. Das erklärte Ziel ist, dass die Teilhabe am Programm in Zukunft noch breiter wird und noch mehr Lernende und Lehrende aus den Bereichen Schul-, Berufs-, Hochschul- und Erwachsenenbildung davon profitieren.

Neben der substanziellen Anhebung des Budgets ist aber auch wichtig, den Zugang zum Programm zu erleichtern und auch solchen Personen Auslandserfahrungen zu ermöglichen, die aufgrund ihrer Situation, etwa einer Berufstätigkeit oder mangelnder finanzieller Ressourcen, darauf bislang verzichten mussten. Deshalb müssen im nächsten Programm auch flexiblere und kürzere Aufenthalte möglich sein beziehungsweise neue Formen der Mobilität, etwa auch virtuelle Kooperationen zwischen Bildungseinrichtungen, wie wir das aus dem Schulbereich bereits kennen, gefördert werden. Darüber hinaus muss die Antragstellung und Verwaltung auf Ebene der Institutionen vereinfacht werden. Es ist heute zum Beispiel kleinen Schulen und Bildungseinrichtungen nur eingeschränkt möglich, am Programm teilzunehmen, weil der bürokratische Aufwand immer höher wurde. Diese Herausforderungen werden in der Programmgeneration 2021–2027 Berücksichtigung finden.

Europäische Elite ...

Wenn wir den Bildungs-, Wissens- und Innovationsstandort Europa im globalen Wettbewerb stärken wollen, muss auch das Erasmus-Programm noch internationaler ausgerichtet sein. Es ist zu begrüßen, dass in Zukunft die Mobilität in Drittstaaten auch für Personen in der Berufs(aus)bildung möglich sein soll. Es braucht aber auch im Hochschulbereich noch mehr Mittel für solche Kooperationen, um die besten Köpfe nach Europa zu holen und europäischen Studierenden die Möglichkeit zu geben, Bildungserfahrungen an den besten Hochschulen der Welt zu sammeln.

Der Kommissionsvorschlag bietet auch neue Elemente, die sich werden beweisen müssen: Die European-University-Netzwerke werden daran zu messen sein, ob der hohe Anspruch, den etwa Emmanuel Macron in seiner Sorbonne-Rede an "Europäische Universitäten" als Stätte der (Aus-)Bildung einer neuen europäischen Elite stellte, werden einlösen können. Die neuen Initiativen dürfen aber nicht zu einer weiteren Verkomplizierung des Systems und zu einem Auseinanderfallen des Gesamtprogramms führen, sondern müssen einander ergänzen und auch für andere europäische Programme, vor allem das künftige Forschungsförderungsprogramm, anschlussfähig sein.

... und Integration

Es gehört zu den gängigen Phrasen in der Diskussion über die Zukunft Europas, dass sich die Union auf "Großes" zu besinnen habe und dass gemeinsame Aktivitäten am "europäischen Mehrwert" zu messen sind. Erasmus+ ist ohne Zweifel ein solches "großes" Programm, und die Frage nach dem Mehrwert beantworten unter anderem mehr als neun Millionen Europäerinnen und Europäer, die in den letzten 31 Jahren davon profitieren konnten. Kein anderes Programm hat die persönliche Einstellung zur europäischen Integration von mehr Menschen positiv verändert und die individuellen Bildungschancen verbessert.

Eine verantwortungsvolle Politik darf und wird nicht bei jenen Programmen sparen können, wo es um Bildung, Lebenschancen und europäische Identitätsentwicklung geht. Die 30 Milliarden Euro, welche die Kommission für die neue Programmgeneration von Erasmus 2021–2027 vorschlägt, sind die beste Investition für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Bildungs- und Wirtschaftsstandorts, vor allem aber für die Stabilität der Friedens- und Solidargemeinschaft Europa. (Stefan Zotti, 12.10.2018)