Sommer 2017: Wer sich der Wrangelinsel mit einem Schiff näherte, hätte aus der Ferne zunächst vielleicht noch gedacht, er sähe eine Schafherde. Doch es war ein Gastronomiekongress von Eisbären – auf der Tagesordnung stand ein gestrandeter Wal.
Foto: Olga Belonovich/Heritage Expeditions

Seattle – Normalerweise sind Eisbären Einzelgänger. Zu besonderen Gelegenheiten können sie jedoch zu recht großen Versammlungen zusammenkommen – und nehmen die ungewohnte Nähe dann erstaunlich gelassen hin. Zu diesen Gelegenheiten gehört auch der Glücksfall, wenn ein toter Großwal an Land gespült wird.

Forscher der Universität Washington berichten im Fachmagazin "Frontiers in Ecology and the Environment" über mehrere solcher Ereignisse in der jüngeren Vergangenheit. An den Kadavern von Grau- oder Grönlandwalen kamen zwischen 40 und 60 Eisbären zusammen, um von den selbst für ihren Nahrungsbedarf riesigen Ressourcen zu zehren. Im Jahr 2017 lieferte ein toter Grönlandwal sogar Nahrung für insgesamt 180 Eisbären, die über lange Zeiträume hinweg immer wieder zu dem Kadaver zurückkehrten.

Überlebenswichtiges Meereis

Die Bärenversammlungen haben das Forscherteam um Kristin Laidre auf die Idee gebracht, dass Walkadaver mehr als nur eine seltene Bereicherung des Eisbären-Speisezettels sein könnten. Möglicherweise waren tote Wale sogar die entscheidende Ressource, die Eisbären in der Vergangenheit über Klimaschwankungen hinweggeholfen haben.

Solche Schwankungen können die großen Raubtiere in die Bredouille bringen. Ihr Leben ist fast zur Gänze auf die Robbenjagd eingestellt. Diese Beute finden sie bei ihren Wanderungen über das Meereis – ob Kolonien, in denen Robben ihren Nachwuchs hüten, oder von einzelnen Tieren genutzte Atemlöcher im Eis, an denen sich die Jäger auf die Lauer legen können.

Was tun, wenn das Eis schmilzt?

Im Spätfrühling löst sich dieser Jagd- und Lebensraum buchstäblich auf. Für die Bären beginnt nun eine Zeit des Hungerns, die monatelang dauern kann – bis sich das Eis wieder bildet. Im Wasser Jagd auf Robben zu machen, ist so gut wie aussichtslos: Eisbären sind zwar gute und ausdauernde Schwimmer, ihrer Lieblingsbeute in dieser Hinsicht aber hoffnungslos unterlegen.

Eisbären teilen sich – relativ konfliktfrei – den Kadaver eines Grönlandwals, der an der Wrangelinsel an Land gespült wurde.
Foto: Chris Collins/Heritage Expeditions

Durch die Erwärmung der Arktis schrumpft die Zone, auf die sich die Eisbären spezialisiert haben, räumlich wie zeitlich ein. Schätzungen zufolge könnte die Arktis bis zum Jahr 2040 während des Sommers eisfrei sein. Für die Eisbären wird das Lebensumstände ergeben, mit denen sie es bisher kaum zu tun hatten, zumindest nicht in dem für die nächsten Jahrzehnte befürchteten Ausmaß.

Vorübergehende Warmphasen gab es jedoch auch in der Vergangenheit – und diese könnten die Räuber nach Laidres Meinung als Aasfresser überstanden haben. Tut sich per Zufall eine fast unerschöpfliche Ressource wie ein toter Großwal auf, kommt den Eisbären zugute, dass sie sehr schnell gewaltige Mengen an Fett konsumieren und dann speichern können.

Hochgerechnet

Um ihre Hypothese zu überprüfen, führten die Forscherin und ihr Team einige Kalkulationen durch. Sie nahmen die Menge an Fett und Protein, die ein durchschnittlicher Großwal liefert, als Ausgangswert. Dann berechneten sie, wie oft den Bären ein solches Festmahl serviert wird. Dafür müssen einige Umstände zusammenkommen: Nur etwa ein Zehntel aller verendeten Wale sinkt nicht auf den Meeresboden ab, und von diesen dahintreibenden Buffets wird wiederum nur ein Teil dort an Land gespült, wo Bären den Kadaver erreichen können.

Und natürlich ist der entscheidende Faktor, wie groß die Zahl der Wale überhaupt ist. Zugleich ist das der Faktor, der die aktuelle Klimaerwärmung von natürlichen Schwankungen in der Vergangenheit unterscheidet. Der Mensch hat die arktischen Lebensräume nicht nur durch Fischerei, Ausbreitung von Küstensiedlungen und Offshore-Industrie verändert. Nach annähernd zwei Jahrhunderten großmaßstäblichen Walfangs sind auch die Bestände der Meeresriesen wesentlich niedriger als vor dem Aufstieg des Menschen.

Am abgenagten Kadaver ist immer noch genug Nahrung für diese Eisbärin und ihren Nachwuchs. Eine Mutter mit ein bis zwei Kindern ist unter normalen Umständen die größte "Ansammlung" im Sozialverhalten dieser Tiere.
Foto: Ian Stirling/University of Alberta

Grauwale werden um die 30 Tonnen schwer, Grönlandwale können sogar auf 50 bis 100 Tonnen kommen. Im Durchschnitt würden acht Wale reichen, eine hypothetische Eisbärenpopulation von 1.000 Exemplaren über die eisfreien Sommermonate zu bringen, berechneten die Forscher. Im Frühling müssten allerdings 20 weitere Strandungen dazukommen, dann fressen Eisbären in Vorbereitung auf die Hungerzeit nämlich besonders viel. In wenigen Regionen wäre eine solche Quote möglich, in anderen ist sie vollkommen ausgeschlossen.

Unterm Strich kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass der Großteil der 19 heutigen Eisbären-Populationen die drohenden Hungerjahre nicht mit Walkadavern überbrücken wird können. Wo die Umstände besonders günstig sind – etwa in der Tschuktschensee nördlich der Beringstraße – werden tatsächlich so regelmäßig Walkadaver an Land gespült, dass sie eine große Bärenpopulation am Leben erhalten könnten. Für die Mehrheit ihrer Artgenossen sehen die Aussichten aber düster aus. (jdo, 14. 10. 2018)