Im Kunstschnee auf Plüsch: Ulli Maier und Johannes Silberschneider

Herwig Prammer

Maria (Ulli Maier), eine ausgediente Spitzenkraft des Varietétanzes, hat gegen jeden Anschein spät, aber doch ihr Glück gemacht. Den Heiligen Abend verbringt sie als Putzfrau standesgemäß: In den Kammerspielen des Wiener Josefstadt-Theaters liegt knöcheltief herrlich flauschiger Kunstschnee.

Rote Kugeln mit Riesendurchmesser bilden den Christbaumschmuck. Eine Stimme von Band sagt die rasche Schließung des Kaufhauses an (Bühne: Florian Etti); ein Gebläse hustet Flocken, zwei Plüscheisbären queren den protzigen Marmorsaal.

JosefstadtTheater

Theatralisches Nachleben

Maria gehört definitiv zu den Erniedrigten und Beleidigten in dieser knallbunten Konsumwelt. Ihre Schritte werden von "Personaldurchsagen" gelenkt, und das ganze Familienunglück der Alleinstehenden bildet die gschnappige Schwiegertochter. Da "tut" sie lieber zu Weihnachten "putzen" – und nimmt mit wahrer Todesverachtung herzhafte Schlucke aus der Obstbrandflasche.

Und doch hat diese armselige, von Gott und dem Gewerkschaftsbund gleichermaßen verlassene Maria alles Glück dieser Erde gepachtet. Sie ist bereits vor rund 40 Jahren dem Kopf des Dramatikers Peter Turrini entsprungen. Wer diesen durch besseres Wissen völlig unbelehrbaren Philanthropen zum Anwalt hat, der braucht sich um sein (mindestens theatralisches) Nachleben nicht zu sorgen.

Überzeugter Freidenker

Turrini nimmt sich Marias zauberhaft an. Und sie dankt es ihm überreich. Sie trifft nämlich auf das Wach- und Schließorgan Josef (Johannes Silberschneider). Dieser verdiente und verdeckte Agent der kommunistischen Weltrevolution muss schon allein deshalb keine Weihnachten feiern, weil er überzeugter "Freidenker" ist. In seiner Trutzjacke gleicht er eher einem versprengten Schutzbündler. Durch seine dicke Brille muss ihm Maria, die Tänzerin von früher als Hygienikerin von heute, wie ein Fabeltier im Unterhemd erscheinen.

Von heute ist in Alexander Kubelkas väterlich duldsamer Regie gar nichts. Braucht es auch nicht zu sein, denn Werte wie Empathie, Geduld, der Wille zu unbedingter Ohrenzeugenschaft, sie sind von gestriger, in Wahrheit aber von zeitloser Evidenz.

Überschreibung

Josef und Maria ist das ewig gültige Duett zweier aus der Welt der Produktivkräfte herausgefallener, "alter" Menschen. Turrinis behutsame Überschreibungen – das Drama spielt jetzt 1991 – ändern nichts an seiner Sinnfälligkeit. Irgendwo, irgendwann reiten die greisen Überlebenden der neoliberalen Lebensreform in ihrer Feinripp- und Polyesterwäsche auf Plüscheisbären in ein neues, natürlich dunkelrotes Zeitalter hinein. Und die ganze Menschheit liest wissensdurstig Artikel der Zeitung Die Wahrheit.

Die lässt sich auch durch Gorbatschows Scheitern in der Verkündigung der Frohbotschaft, dass nämlich alle Menschen gleich seien, nicht beirren. So gilt es, eine famose Zeitreise anzuzeigen, die zugleich eine berührende Liebesgeschichte ist. Wie man sich bettet, so liegt man im Kunstschnee. Und ehe es so weit ist, haben der Objektschützer und seine Reinigungsfachkraft den bösen Kapitalismus einfach transzendiert. Haben miteinander Tango getanzt und die Welt nach Maßgabe ihrer Urteilskraft in fassliche Brocken zerteilt: "Ich bin ein anderer", oder: "Alles dreht sich".

Ein Fest für einen Illegalen

So endet das tröstlichste aller Peter-Turrini-Stücke als stilles Fest der kleinen Leute. Der spröde Josef hat sich seiner Zärtlichkeit besonnen, Maria hat aus ihrem Ledertäschchen Musik herausgeschüttelt. Lange nicht hat ein so einfaches Plädoyer eine so schwebende Wirkung hervorgerufen: "Ein Leben lang war ich ein Illegaler!" Von dieser Aufführung, diesen Schauspielern kann man ganz lange ganz legal entzückt sein. Der Rest – die aktuelle Weltlage et cetera – ist doch egal. (Ronald Pohl, 15.10.2018)