Wenn man Heimat flieht, die tötet, wird alles, was ins Leben gewachsen ist als vertrautes Hintergrundrauschen, zu dröhnender weißer Stille.

Foto: imago/Rene Traut

Schnell geht im öffentlichen Diskurs verloren, was Flucht eigentlich bedeutet, was sie mit Menschen macht. Sie werden zu Zahlen, Wellen, Strömen. Die Ströme sollen versiegen. Wie, ist egal. Migration, Flucht: Egal, alles is lei ans.

Erinnern wir uns. Flucht hat auch in Europa stattgefunden. Wenn man Heimat flieht, die tötet, wird alles, was ins Leben gewachsen ist als vertrautes Hintergrundrauschen, zu dröhnender weißer Stille. Verloren sind Alltägliches, Besitz, Menschen, die nahe gewesen sind. Ihre Schatten reisen mit.

Auch wenn man in Einsamkeit aufbricht, geht man von ihnen begleitet. Der eingenähte Schmuck macht den Rocksaum schwer und die Verzweiflung, in die Risse des Vergangenen genäht, das Herz. Schwer wie Steinplatten die Augenlider. Echos des Erlebten als Ebbe und Flut, die auch nicht aufhören, wenn man in Sicherheit ist, sollte man je in Sicherheit kommen. Die Sirenen dieser Gezeiten singen Lieder von Verlust und Schrecken. Sie locken an Klippen jenes Wahnsinns, der alles vergessen macht und aus dem Jetzt enthebt, wenn man nur ihren Stimmen folgt.

Wer flieht, wird auch leicht. Abgestreift alles, was verwurzelt. Die Haut dünnt aus, die Seele fedrig im schneidenden Wind. Man wird zum Papierschiffchen, von den Wellen umhergeworfen. Hoffend auf den sicheren Hafen. Wie dieser aussehen könnte, ist eine Frage, die Europa noch nicht beantwortet hat. (Julya Rabinowich, 14.10.2018)