Christian Singer ist Gynäkologe und spezialisiert auf Brustkrebs.

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Das Risiko für genetischen Brustkrebs wird oft überschätzt und somit auch der Wert einer prophylaktischen Operation, so der Experte.

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STANDARD: Wer kommt aktiv zur Beratung?

Singer: Frauen und Männer, die auffällige Brust- und Eierstockkrebsfälle in der Familie haben und die sich Sorgen machen, selbst ein hohes Risiko zu haben. Wir sehen vor allem junge Frauen, deren Mutter, Schwester oder Tante erkrankt ist. Sie wollen wissen, welche Maßnahmen sie setzten können, etwa Früherkennung durch Mammografie oder MRT.

STANDARD: Also nur gesunde Frauen?

Singer: Nein. Es gibt seit kurzem Medikamente, die man Mutationsträgerinnen verabreichen kann, wenn sie bereits erkrankt sind. Deswegen sehen wir zunehmend auch Betroffene, also neu erkrankte Frauen, die eine therapeutische Konsequenz daraus ziehen. Oder wenn ohnehin eine Operation geplant ist, wollen Frauen vorher wissen, ob sie eine Mutation haben. Dann kann es sinnvoll sein, gleich das Brustdrüsengewebe beider Brüste entfernen zu lassen – so wie Angelina Jolie es gemacht hat.

STANDARD: Finden Sie solche Promifälle gut?

Singer: Nachdem Angelina Jolie mit ihrer Entscheidung, sich Brüste und Eierstöcke entfernen zu lassen, an die Öffentlichkeit gegangen war, stieg die Nachfrage nach genetischen Beratungen um das Fünffache an. Viel mehr Frauen haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt. Davor wurde uns vorgeworfen: "Ihr macht den Frauen ja nur Angst, ihr zeigt ein Damoklesschwert auf, aber die Frauen können nichts dagegen tun." Dass Jolie dann proaktiv etwas dagegen getan hat, auch wenn es eigentlich eine sehr mittelalterliche Methode ist, sich ein Organ wegschneiden zu lassen, hat ihr das mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, zumindest was den Eierstockkrebs angeht, das Leben gerettet. Der Fall hat aufgezeigt, dass Frauen nicht machtlos sind.

STANDARD: Verängstigen solche Frauen nicht auch andere?

Singer: Es gibt Frauen, die haben eine ungemeine Angst, die nicht begründbar oder rational ist. Eine erkrankte Arbeitskollegin oder Bekannte ist auch oft ein Auslöser, sich mit dem Thema zu befassen. Diese Frau ist dann nicht davon abzubringen, sich die Brüste entfernen zu lassen. Da ist viel Angststörung dahinter, die man aufarbeiten muss. Zudem wird das Risiko oft überschätzt.

STANDARD: Inwiefern?

Singer: Das Risiko für genetischen Brustkrebs wird oft überschätzt und somit auch der Wert einer prophylaktischen Operation. Das Hintergrundrisiko, also das Risiko für Brustkrebs ohne genetische Ursache, wird hingegen oft unterschätzt. Jede achte oder neunte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens, das ist an sich schon sehr hoch.

STANDARD: Wie hoch ist das Erkrankungsrisiko mit einer Mutation?

Singer: Wenn wir eine finden, schnalzt das Risiko auf 80 oder 90 Prozent hoch, also neun von zehn Frauen erkranken. Bei anderen Genen hingegen ist das Risiko nur marginal und oft nicht größer als durch Faktoren wie Übergewicht, die Einnahme der Pille oder Kinderlosigkeit.

STANDARD: Wie läuft die Beratung ab?

Singer: Wir versuchen zunächst herauszufinden, warum eine Frau da ist, was sie sich von der Beratung erwartet. An der Stelle können wir oft schon viel Angst auflösen. Wir sehen es auch als unsere Aufgabe, zu deeskalieren. Viele Frauen haben große Angst, weil es eine familiäre Vorgeschichte gibt. Im nächsten Schritt erstellen wir einen detaillierten Stammbaum mit den Erkrankungsfällen in der Familie. Sind bestimmte Selektionskriterien erfüllt, bieten wir den Familien eine kostenlose genetische Analyse, also eine Blutabnahme an. Die Voraussetzung dafür ist zudem eine formale genetische Beratung. Dort informieren wir über die Ursachen der Erkrankung, dass Mutationen auch über Männer weitergegeben werden können, dass die Chance für ein Kind, diese Genveränderung zu bekommen, bei 50 Prozent liegt und was es für sich und die Angehörigen bedeutet, wenn das Ergebnis negativ ist.

STANDARD: Wie läuft die Entscheidungsfindung für oder gegen eine genetische Analyse ab?

Singer: Im Sinne eines "shared decision making" klären wir die Patienten auf, sodass sie informiert selbst entscheiden können. Niemand muss den Test machen. Wir sagen den Frauen auch, ob es nicht sinnvoll ist, ihn zu machen. Die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Genveränderung ist so gering, dass es mitunter keinen Test rechtfertigt. Wir fragen auch zum Zeitpunkt der Aufklärung noch einmal, ob eine Frau das Ergebnis wirklich wissen will. Es gibt auch ein Recht auf Nichtwissen.

STANDARD: Wie lange dauert die Analyse, wie schnell bekommt man einen Termin?

Singer: Die Mutations-Analyse geht theoretisch über Nacht. Es gibt aber Qualitätskontrollen. Wenn wir eine Mutation finden, bestätigen wir sie mit einer anderen Methode und nehmen eine erneute Blutprobe. Bis zum Ergebnis dauert es dann insgesamt etwa zweieinhalb Wochen. Die Wartezeiten in den Beratungszentren sind unterschiedlich, bis zum nächsten freien Termin kann es bei gesunden Frauen auch einige Wochen dauern. Wenn eine Patientin aber bereits erkrankt ist, bekommt sie, wenn nötig, auch am selben Tag noch ein Beratungsgespräch.

STANDARD: Helfen Sie auch bei der Entscheidung für oder gegen eine Entfernung der Brüste und Eierstöcke?

Singer: Wir beraten nondirektiv. Wir sagen also nicht "sie sollen", "sie müssen" oder "sie dürfen nicht" – auch wenn es einem manchmal auf der Zunge liegt. Das dürfen wir per Gesetz nicht. In Deutschland, Amerika oder Israel beispielsweise wird viel expliziter empfohlen. Bei den Beratungsgesprächen ist immer eine Psychoonkologin dabei, auch der Partner kann mitkommen. Auch hier praktizieren wir ein "shared decision making", am Ende entscheidet aber die Patientin selbst.

STANDARD: Wann ist die Entfernung sinnvoll?

Singer: Ein Drittel bis die Hälfte aller Frauen mit Mutation erkrankt an Eierstockkrebs. Den können sie nicht früh erkennen, der bringt sie um. Es wurde ganz eindeutig gezeigt, dass die Entfernung der Eierstöcke und der Eileiter die wahrscheinlich wichtigste vorbeugende Intervention in der Medizin überhaupt ist. Damit schützt man Frauen und rettet ihr Leben. Das muss man den Patientinnen auch ganz klar kommunizieren. Gibt es keine Risikofaktoren und keine belastende Familiengeschichte, ist eine Entfernung der Brust sicher nicht der richtige Weg. Operationen sind ja auch mit einem Risiko verbunden.

STANDARD: Was kann ansonsten gegen einen Entfernung sprechen?

Singer: Es gibt eine Reihe ganz individueller Faktoren, etwa die Frage nach dem Kinderkriegen. Oft sind die Betroffenen 25- bis 35-jährige Frauen, die die Familienplanung noch vor sich haben. Auch diese Themen müssen aufgegriffen und gemeinsam mit dem Arzt diskutiert werden.

STANDARD: Beraten Sie auch in organisatorischen Fragen?

Singer: Ja, vor allem rechtliche Aspekte sind wichtig – wem erzähle ich es? Möglicherweise betroffene Angehörige müssen gewarnt werden, wenn eine Mutation gefunden wird. Es ist sinnvoll, in der Familie über das Ergebnis zu reden. Wir besprechen auch, wem man es nicht erzählen soll – dem Arbeitgeber, der Zusatz- oder Lebensversicherung. Die haben kein Recht auf diese Daten.

STANDARD: Was können Sie für bereits erkrankte Frauen tun?

Singer: Beim Eierstockkrebs gibt es Medikamente, mit denen bei Mutationsträgerinnen die Zeit bis zum Fortschreiten der Erkrankung mehrfach verlängert werden kann. Und seit etwa einem halben Jahr gibt es auch eine neue Therapie für Frauen mit Brustkrebs. Finden wir eine Mutation, könnte bei einer besonders aggressiven Subform des metastasierten Mammakarzinoms, nämlich beim triple-negativen Brustkrebs, eine reine Tablettentherapie eingesetzt werden. Diese Patientinnen hätten früher auf jeden Fall eine Chemotherapie mit all ihren Nebenwirkungen bekommen. Jetzt können wir ihnen eine Alternative anbieten, die sehr gut verträglich ist – ohne Haarausfall und Stigmatisierung. Das ist schon eine kleine Revolution.

STANDARD: Welche Neuerungen gibt es für Patientinnen, die noch nicht erkrankt sind?

Singer: Ab November gibt es eine Chemoprävention, die wir im Rahmen einer Studie anbieten. Das ist auch etwas ganz Spektakuläres. Zum ersten Mal können wir bei Frauen mit Mutation durch eine Spritze, die alle sechs Monate verabreicht wird, hoffentlich ihr Risiko senken, überhaupt erst an Krebs zu erkranken. Das ist eine weltweite Studie, die in Österreich ihren Ausgang genommen hat. Der österreichische Genetiker Josef Penninger hat den Zusammenhang zwischen der BRCA-Mutation, dem Entstehen von Brustkrebs und dem Schutz durch Denosumab erstmals beschrieben.

STANDARD: Ein weiterer Grund also für Frauen, ihr genetisches Risiko zu kennen.

Singer: Ja. Früher hieß es, die Folgen einer Mutation seien so katastrophal, dass man das Ergebnis einer Frau eigentlich gar nicht zumuten darf – eine total paternalistische Einstellung. Das ist natürlich vollkommener Quatsch. Patientinnen müssen gut aufgeklärt und informiert werden, sie können jetzt etwas dagegen tun, und sie können sich nur dann schützen, wenn sie Bescheid wissen. Deshalb müssen diese Barrieren fallen und viel mehr Frauen der Zugang zu genetischer Beratung und Analyse gegeben werden. Je schwieriger der Zugang zu diesen Informationen ist, desto eher werden Frauen davon abgehalten, ihre Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen. Man kann Frauen die Wahrheit zumuten. (Bernadette Redl, 17.10.2018)