Das Dating-Portal Tinder hat 2016 in Indien sein erstes Büro außerhalb Amerikas eröffnet. Das ist vielen ein Dorn im Auge.

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Ein Sommertag in Delhi. Knapp 40 Grad Celsius zeigt das Thermometer. Der Himmel ist grau und bedeckt: Staub und das Hupen der Tuk-Tuks erfüllen die Luft. Süßlich-herber Duft von auf Kohle gebratenen Maiskolben gesellt sich dazu. Der leichte Wind, der seine Runden dreht, bringt keine Abkühlung. Es fühlt sich an, als liege die Stadt unter einem riesigen Haarföhn.

Kiran und Lata wählen an diesem Tag ein schattiges Plätzchen unter einem Baum in einem Park in der indischen Hauptstadt. So entgehen sie den heißesten Stunden und den Blicken der Passanten – denn Liebe und Zuneigung zwischen Mann und Frau gehören nicht in die Öffentlichkeit. Händchenhaltend durch die Straßen zu schlendern ist in vielen Teilen der Stadt unmöglich. Nur unter Männern wird es toleriert – es symbolisiert Freundschaft.

Die beiden Studierenden sind so etwas wie ein Paar, nicht nach westlicher Definition, sondern nach ihrer. "Wir dürfen uns eigentlich nicht treffen. Meine Eltern wollen, dass ich einen anderen Mann heirate. Ich möchte aber lieber mit Kiran zusammen sein", erzählt die 22-Jährige und schaut dabei auf den Boden. Kennengelernt haben die beiden einander über die App Tinder. Zuerst hätten sie wochenlang miteinander geschrieben, ehe sie sich trafen.

Anonymität erwünscht

"Wir gehören zwar derselben Kaste Yadav an, aber unsere Eltern würden das nie verstehen, dass wir uns über ein Datingportal kennengelernt und ineinander verliebt haben", erzählt der 26-Jährige und legt schützend seinen Arm um Lata. Sie fürchten sich davor, ihre Familien zu enttäuschen, daher sind das auch nicht ihre richtigen Namen. Auch vor eine Kamera trauen sie sich nicht. In dem Park sind sie jedoch geschützt.

Überall liegen Pärchen und genießen die gemeinsame Zeit – eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Der Park gleicht einer Festung, abgegrenzt durch Eisenzaun. Es gibt nur zwei Eingänge, die beide von Security-Mitarbeitern bewacht werden. Fotos zu schießen ist strengstens verboten. "Wir gehen regelmäßig Kontrollgänge durch den Park, um sicherzustellen, dass die Besucher ungestört sind. Es liegt nicht an mir, sie zu verurteilen. Jeder soll das machen, was er will", erzählt Mahavir, einer der Parkwächter.

So denkt nicht jeder: Schätzungen zufolge sind um die 90 Prozent der Ehen in Indien arrangiert. Liebe nimmt eine untergeordnete Rolle ein. Viel wichtiger ist es, derselben Religion und Kaste anzugehören. Dicht gefolgt von finanzieller Unabhängigkeit. Das tagelange Hochzeitsfest will schließlich bezahlt werden. Nicht selten wohnen bis zu 500 Gäste den Feierlichkeiten bei.

"Nicht unsere Tradition"

"Ich habe meine Frau Raja durch meine Eltern kennengelernt. Im Laufe der Jahre habe ich mich auch in sie verliebt. Ich finde, dass es darum geht, seine Familie stolz zu machen. Ich kann nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die sich über Tinder treffen – das ist nicht unsere Tradition", erzählt der 35-jährige Sudhir. In Europa mag diese Ansicht nicht greifbar sein, jedoch ist die Hochzeit aus Liebe heraus auch hier ein relativ junges Phänomen. "Kultursoziologisch betrachtet gibt es arrangierte Ehen in allen Kulturen, in denen es Standesunterschiede gibt. Das war auch in Österreich lange so. Egal ob bei den Bauern oder beim Adel", so Roland Girtler, Universitätsprofessor für Soziologe an der Universität Wien. Gehe es um Geld, spiele dieses Modell auch in demokratisierten Gesellschaften eine Rolle – gerade in Indien. Doch natürlich gebe es Ausnahmen.

2016 eröffnete das zur Match Group gehörende Tinder in Delhi das erste Büro außerhalb Amerikas. Auch Anil nutzt die App. In erster Linie, um ausländische Frauen kennenzulernen. "Einmal habe ich sogar eine Frau aus Prag, ich glaube, das ist in Tschechien, mit zu meinen Eltern genommen. Ich habe ihnen gesagt, dass wir nur Freunde sind", erzählt der 23-Jährige mit einem breiten Grinsen.

Warten auf ein Umdenken

Mittlerweile ist es Nachmittag geworden. Lata nimmt ihr blaues Seidenhalstuch und legt es über ihren und Kirans Kopf: So lässt es sich besser turteln. Wie es weitergeht, wissen die beiden nicht – sie hoffen, eines Tages ihre Eltern überzeugen zu können, aus den Traditionen auszubrechen. Doch bis es so weit ist, werden in Indien wohl noch einige Männer und Frauen den Weg zum Altar wagen – ob mit oder ohne Liebe. (Benjamin Enajat aus Neu-Delhi, 16.10.2018)