Lady Gaga am "Spex"-Cover. Mit Ende des Jahres stellt die Zeitschrift ihr Erscheinen ein.

Foto: Spex

Berlin – Wer in den 1980ern im Spex blätterte, kam aus dem Staunen nicht heraus. Als Spex-Leser, der mehr sein wollte als ein Konsumtrottel mit Hi-Fi-Anlage, hatte man sich am Riemen der Theorie zu reißen. Wer dachte, es sei genug, lediglich etwas von Popkultur zu verstehen, dem wurde bewiesen, dass er auch von ihr nicht die geringste Ahnung besaß.

1980 aus den Trümmern der Nobel-Punkpostille Sounds hervorgegangen, erklärten die Autorinnen von Spex das weite Feld der Popkultur mit heißem Atem zur Widerstandszone. Begriffsklärungen ersetzten Fragen, ob eine bestimmte Spielart des Westcoast-Rock "gut losgehe" oder die Rolling Stones nach Start Me Up noch relevant seien. Die Zeitschrift war nach der kurzlebigen Band X-Ray Spex benannt, in ihr ließen sich Edelfedern wie Diedrich Diederichsen, Clara Drechsler oder Jutta Koether im Verkündigungston des Apostels Paulus über das Wesen des Postpunk aus.

Wer begreifen wollte, warum z. B. Platten des kalifornischen Off-Plattenlabels SST eine Tür in die Zukunft aufsprengten, musste von Adorno mehr als nur eine Ahnung besitzen. Man sollte zudem unbedingt Jazz kennen, die Musique concrète lieben und obendrein die stundenlangen Live-Exkursionen der Grateful Dead im kleinen Hippie-Finger haben.

Gesten der Selbstermächtigung

Umgekehrt bildete Spex, zunächst von Köln aus, recht wahrheitsgetreu die Epiphänomene der westdeutschen Avantgarde ab. In den frühen 1990ern explodierte der Pop-Underground mit dem Erfolg von Kurt Cobains Nirvana. Die "Independent"-Musik absolvierte "den langen Marsch nach Mitte", Club und Techno-Labor wurden zu Umschlagplätzen einer Praxis, in der Kunst und Leben miteinander verschmelzen sollten. In Gesten der Selbstermächtigung wurde nochmals der Vorstellung gehuldigt, ein Leben ohne Entfremdung sei gerade unter den Bedingungen der Globalisierung irgendwie möglich.

Dialektik blieb Trumpf (nicht Trump) in den Reportagen bleichgesichtiger Spex-B-Boys. Diese erzählten im Ton unbedingter Affirmation über den Hip-Hop aus den schwarzamerikanischen Ghettos. Mit der flächendeckenden Inbesitznahme des Underground durch den neoliberalen Kapitalismus schwand allmählich der Glaube, Agenten der Kapitalverwertung ließen sich durch ein paar Clicks and Cuts aus dem Laptop bei der Verfolgung ih rer kommerziellen Interessen stören. Rock ’n’ Roll verschwand mit zunehmendem Alter in den Großhallen. In die zogen an Feierabend Familienväter in ihren "Motörhead"-Leibchen. Immer seltener ließen sich Subkulturen unter der Obhut einer einheitlichen Widerstandserzählung zusammenfassen.

Aufgeklärter Kulturkonsumismus

Spex übersiedelte irgendwann nach Berlin und wurde, obwohl von wunderbaren Journalisten wie Max Dax geleitet, zum Zentralorgan eines bis zur Kapitulation aufgeklärten Kulturkonsumismus. Dementsprechend wurde auch die Mode zum Tummelplatz der Spex-Hipster. Widerstandsexegeten wie Georg Seeßlen entlieh man dem Zirkel der übellaunigen Konkret-Marxisten. Doch blieb die Zeitschrift immer häufiger die Antwort auf die Frage schuldig, warum man sie lesen sollte. Auch Themennummern über das Wutbürgertum zerstreuten Zweifel nicht. Vielleicht war es nie schwieriger, über Pop zu schreiben, als heute. Die ergrauten Kinder der Widerstandskultur erfreuen sich anhand von Acht-CD-Boxen ihrer Kenntnis von Pet Sounds oder London Calling. Die jungen Spotify-User aber können auf die Prosa irgendwelcher "Gatekeeper" getrost verzichten.

Heute blüht der Mainstream mehr denn je. Er scheut sich auch nicht, sich gegenüber der Wirklichkeit affirmativ zu verhalten und ausgesprochen rechts zu sein. Nach 38 Jahren und 384 Ausgaben stellt Spex mit Ende des Jahres das Erscheinen ein. (Ronald Pohl, 16.10.2018)