Wenn Tatiana Lecomte historische Fotografien sichtet, sind es die Details, die die Künstlerin interessieren. Zum Beispiel dieser Deckenleuchter aus dem Hotel Weinzinger, wo Adolf Hitler residierte, als er 1938 den Oberösterreichern den Anschluss verkündete.

Foto: Fotograf unbekannt

Wider das Vergessen richtet sich die Kunst von Tatiana Lecomte. Seit vielen Jahren beschäftigt sich die 1971 in Bordeaux geborene und in Wien lebende Künstlerin mit Fragen der Erinnerungskultur, ins besondere betreffend die Zeit des nationalsozialistischen Regimes. Herkömmlichen Methoden der Geschichtsaufarbeitung steht Lecomte jedoch skeptisch gegenüber, sie betreibt vielmehr künstlerische Forschung.

Was das bedeutet, erlebt man in der Ausstellung Anschluss, die nun das Lentos in Linz zum Gedenkjahr 2018 beiträgt. Für die Schau tat sich Lecomte in oberösterreichischen Archiven um, sichtete Fotografien des Linzer Synagogenbrands im November 1938 ebenso wie Bilder aus Konzentrationslagern. Präsentiert werden ihre Funde im Lentos auf unkonventionelle Art: Die Legenden befinden sich, separiert von den Bildern, in einem anderen Raum.

Diese Fotografie des Synagogen-Brands in Linz am 10. November 1938 tat Tatiana Lecomte in oberösterreichischen Archiven auf.
Foto: Franz Mittermayr, Diözesanarchiv Linz

Das Eigenleben historischer Fotografien

Bezweckt ist damit, dass die Fotografien neu wahrnehmbar werden. Statt die Fotografien unmittelbar historisch eingeordnet zu bekommen, sollen sich Betrachter auf deren sinnliche Dimension einlassen: Was vermittelt der Anblick eines Deckenleuchters aus einem Linzer Hotel, in dem Adolf Hitler 1938 residierte, ehe man die Geschichte zum Bild kennt?

Auf 29 Bildtafeln setzt Lecomte die historischen Dokumente zudem in neue Kontexte. Dem genannten Deckenleuchter aus dem Hotel Weinzinger stellte sie zum Beispiel eine Zeichnung gegenüber, in der ein Häftling die Lebensumstände im KZ festhielt. Verbindungslinien zwischen den Zeiten deutet Lecomte an, indem sie eigene Fotografien in die Bildtafeln integriert. So fasste sie etwa die beklemmende Idylle, die sich heute über die Schauplätze der NS-Gräuel gelegt hat, in eindringliche Naturfotografien.

Lecomte fotografierte beklemmende Idyllen an Orten unvorstellbarer Gräuel: "Fallschirmspringerwand" nannten die Nazis diese Felswand im KZ Mauthausen.
Foto: Bildrecht, Wien 2018

Die Sounds der Vergangenheit

Dass Geschichte eine Konstruktion ist, ist Prämisse des Kurzfilms Ein mörderischer Lärm. Er zeigt eine ungewöhnliche bis merkwürdige Art der Erinnerungsarbeit: Ein Holocaust-Zeitzeuge trifft auf einen professionellen (Film-)Geräuschemacher; Letzterer wird dabei zu einer Art Geburtshelfer für Erinnerungen, indem er mittels diverser Utensilien Sounds der Vergangenheit beschwört.

Es ist die Geräuschkulisse jenes Stollens im oberösterreichischen St. Georgen an der Gusen, den die Nazis unter dem Namen "B8 Bergkristall" zu einer unterirdischen Flugzeugfabrik ausbauten. Zeitzeuge Jean-Jacques Boijentin war einer jener Insassen des KZ Gusen II, die dort ausgebeutet wurden. In Lecomtes Film sind es der Lärm des Fließbandmotors oder der metallische Aufschlag der Hacke, die seine Erinnerung an den Schrecken befördern.

Als der Geräuschemacher per Rütteln an einer großen Kiste einen umstürzenden Holzpfeiler imitiert, hat Boijentin Einwände: Der rumpelnde Sound an sich sei passend, nur: Genau genommen habe so ein Holzpfeiler im Stollen kein Geräusch gemacht: "Er fiel auf Menschen." (Roman Gerold, 16.10.2018)

Im Film "Ein mörderischer Lärm" wird ein professioneller Geräuschemacher einem Zeitzeugen gegenüber zum Geburtshelfer der Erinnerung.
Foto: Bildrecht, Wien 2018