Das Spiel um schnelle medienwirksame Aufmerksamkeit ist nicht das ihre: Die neue Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi will mit Qualitätskino überzeugen.

Foto: Luca Fuchs

Was könnte die Direktorin eines Filmfestivals besser charakterisieren als ihr aktueller Lieblingsfilm? Eva Sangiorgi, die neue Viennale-Chefin, hat, ohne zu zögern, gleich zwei davon parat. Der erste ist Three Faces vom iranischen Meisterregisseur Jafar Panahi, der seine Filme seit einigen Jahren im Untergrund realisiert. Es sei stets seltsam, als Profi auf einem Festival ständig Filme sehen zu müssen, sagt Sangiorgi, "doch bei Three Faces konnte ich endlich durchatmen. Dieser Roadtrip eines Regisseurs und einer Schauspielerin mit seinen Farben und der aus anderen Filmen vertrauten Landschaft war in seiner Simplizität richtig erfrischend."

Der zweite Film, der Sangiorgi spontan einfällt, ist L’empire de la perfection, ein Filmessay des Franzosen Julien Farault, in dem es um den US-Sportrabauken John McEnroe und das überraschend weite Beziehungsnetz zwischen Kino und Tennis geht. "Dabei bin ich gar kein besonderer Tennisfan, aber der Film ist sehr raffiniert gebaut. Mir gefiel, wie er über Bewegungen spricht – und dann sogar Godard zitiert."

Ein arrivierter Autorenfilmer und eine verspielt-reflexive Doku, das liefert schon einmal einen Einblick in die Geschmacksvorlieben der 40-jährigen Italienerin, die am 25. Oktober ihre erste Viennale mit Alice Rohrwachers magisch-realistischem Meisterwerk Lazzaro felice eröffnen wird. Für die Vorbereitung des größten heimischen Filmfestivals hatte sie nur sechs Monate Zeit; der Grund dafür waren die späte Ausschreibung und der Umstand, dass Sangiorgi im Februar noch ein letztes Mal Ficunam, das Filmfestival der unabhängigen Universität in Mexiko-Stadt, zu verantworten hatte, das sie seit 2011 leitete.

Fest der informellen Treffen

Ficunam genießt unter cinephilen Festivalreisenden aufgrund seiner fein verlesenen Filmauswahl (mit auffälligen Parallelen zu Wien) und dem breiten Diskursangebot einen ausgezeichneten Ruf. Die Branche attestiert Sangiorgi Ehrgeiz und Durchsetzungskraft. Beides war für ihre Wahl gewiss kein Nachteil. An der Viennale schätzt sie vor allem die "besondere Atmosphäre". Als Gast gefielen ihr die "angenehm informellen" Treffen auf dem Festival. Und sie erinnert sich, wie Filmemacher ins Schwärmen kamen: "Mathieu Amalric war richtig bewegt über die Anteilnahme in Wien."

Ob sie es auch als Bürde empfindet, in die Fußstapfen des langjährigen Viennale-Direktors Hans Hurch zu treten? Schließlich ist der Wunsch nach Kontinuität von manchen Seiten nicht gerade dezent vernehmbar. Wie gelingt es einem da, seine eigene Handschrift zu entwickeln? San giorgi lächelt bei dieser Frage verschmitzt: "Da haben Sie gleich den entscheidenden Punkt angepeilt." Ihre Antwort ist diplomatisch. Kontinuität gebe es schon durch die kurze Vorbereitungszeit. Außerdem will sie das Erbe respektieren – also keine grund legenden Änderungen wie einen Wettbewerb (den niemand ernsthaft wollte).

"Aber das Programm ist natürlich anders, auch wenn es Überschneidungen zu früheren Ausgaben gibt. Ich komme aus einer anderen Generation." Das zeigt sich etwa in der Wahl zweier Specials, die den eigensinnigen, politisch prononcierten Dokumentaristen Roberto Minervini und Gürcan Keltel gewidmet sind, deren Filme bisher nie auf der Viennale liefen. "Eine meiner ersten Änderungen war es auch, die Programmkonsulenten auszutauschen", sagt Sangiorgi. Für das nächste Jahr plant sie überdies, ein Gremium zu installieren, das ihr bei der Auswahl behilflich ist. Der Mythos des Festivaldirektors als einziger Instanz bekommt mithin erste – durchaus berechtigte – Kratzer.

Sangiorgi wurde 1978 in Faenza, einer Kleinstadt in der Emilia-Romagna, geboren. Sie studierte Kommunikationswissenschaft und, bereits in Mexiko, Kunstgeschichte. Wie viele andere Cineasten ihrer Generation hat sie noch das Fernsehen als zweiten Bildungsweg genossen: Als Kind, verriet sie in einem Interview einmal, habe sie es geliebt, zu Hause Schwarzweißfilme zu schauen – am liebsten untertags.

Cassavetes und seine Familie

Ihre filmischen Prägungen seien durchaus klassisch, bestätigt sie: "Ich blicke immer noch sehr gerne auf die 1940er und 1930er zurück. Das Kino, das mich wohl am meisten berührt hat, war aber jenes der 1970er. Also die Zeit nach der Nouvelle Vague, etwa John Cassavetes mit seiner Familienbande an Mitarbeitern. Das amerikanische Independentkino hat viel mit diesem Selbstverständnis zu tun, dass man alles selbst macht, mit Familie und Freunden."

Für die US-Schauspielerin Chloë Sevigny, eine Königin des unabhängigen US-Kinos, wäre dieses Jahr auch ein Tribute geplant gewesen, das leider kurzfristig gescheitert ist. Einen Gaststar um jeden Preis wolle Sangiorgi aber nicht: "Mit einer solchen Ausrichtung fühle ich mich unbehaglich." Jemanden einzufliegen, nur damit er oder sie dann innerhalb von vier Stunden eine Präsentation macht, das sei auch für die Viennale nicht gut. Dann lieber Regiegrößen wie Claire Denis oder Olivier Assayas, die sich für heuer angekündigt haben.

Dass Filmfestivals mit einer diversifizierten Öffentlichkeit, nicht zuletzt großen VoD-Anbietern, zu kämpfen haben, ist Sangiorgi auch bewusst. Immerhin ist es gelungen, den von Netflix produzierten Venedig-Gewinner, Alfonso Cuaróns Roma, ins Programm zu holen. "Es ist aber nicht so, dass auf der einen Seite der Teufel und auf der anderen ein Engel steht. Das ist ein Problem des Marktes – das Kino ist dazwischen eingekeilt." Dem Festivaltrend, TV-Serien zu zeigen, wolle Sangiorgi aber nicht folgen. Da erwacht wieder die Cinephilie in der Italienerin: "Ich arbeite für die andere Seite, dafür, die Magie des Kinos zu erhalten!" (Dominik Kamalzadeh, 16.10.2018)