Geballte Widersprüchlichkeit: Das Bild einer Frau aus Teheran im Jahr 1928 wirkt eher lasziv denn keusch – der im Orient beliebte Stoff mit Blumenmuster erzählt von slawischen Einflüssen.

Plakatsujet KHM Museumsverband

Einem saudi-arabischen Roboter mit Kopftuch wird die Staatsbürgerschaft verliehen, stolze Musliminnen kämpfen für das Recht auf verschleierte Smartphone-Emojis, eine Drogeriekette erntet einen Shitstorm, weil sie mit einer Hidschab-tragenden Frau wirbt: Im Oktober des Vorjahrs überschlugen sich Meldungen wie diese in den Medien. Es war der Moment, als sich das gerade neu eröffnete Weltmuseum Wien entschloss, das Thema im Zuge seiner ersten großen Sonderausstellung zu behandeln: "Verhüllt, enthüllt! Über die Kulturgeschichte des Kopftuchs" bietet ab heute Überraschendes und läuft bis 26. Februar 2019.

STANDARD: Das Kopftuch der Frau wird heute fast nur noch mit Religion assoziiert, dabei ist es älter als die Weltreligionen selbst. Wo kommt es ursprünglich her?

Steinmann: Wie alle drei abrahamitischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, kommt es ursprünglich aus dem Orient. Vor einigen tausend Jahren markierte das Kopftuch in den Städten des alten Mesopotamiens gesellschaftliche Unterschiede und sein Fehlen die sexuelle Schutzlosigkeit der Frauen. Bei uns in Europa blickt das Kopftuch auf eine 2000-jährige Geschichte zurück.

STANDARD: Wir haben also einerseits Standesdenken, andererseits auch schon früh ein patriarchales Unterdrückungsinstrument, um die Frau zu domestizieren?

Steinmann: Wenn man es so benennen will: ja. Es geht hier ganz klar um die sexuelle Kontrolle der Frau durch den Mann, mit dem Ziel, die eigene Nachkommenschaft zu "schützen". Hier haben wir es mit einer Ideologie patrilinearer Gesellschaften der "reinen Nachkommenschaft" zu tun.

STANDARD: Paradoxerweise werden durch Kopftücher sexuelle Reize aber oft auch erst recht betont. Afrikanische Musliminnen etwa konkurrieren untereinander, wer das prachtvollste Kopftuch trägt.

Steinmann: Das Kopftuch ist ein äußerst widersprüchliches Ding, denn im Grunde enthüllt es ja mehr, als es verhüllt. Es ist ja in Wahrheit auch ein Hingucker. Im Fin de Siècle haben sich westliche Betuchte mit Orientmode geschmückt. Man hat damit gespielt. Wenn Sie Musliminnen heute auf der Straße sehen, ist alles codiert. Während ein Teil der jungen Musliminnen sich in der Öffentlichkeit gegenüber Fremden verschleiern muss, da sie sonst als sündig und für die Männer verfügbar gelten, kreieren andere einen Streetwear-Look, farbenfroh und frech, sexy und züchtig zugleich.

STANDARD: Wie kam es dazu, dass die abrahamitischen Religionen das Kopftuch übernommen haben?

Steinmann: Es gehört zu einer Reihe von kulturbedingten Traditionen, die in die Religionen Aufnahme fanden. Es ist allerdings weder in der jüdischen Tora noch im islamischen Koran ein explizites Verhüllungsgebot in Verbindung mit der Unterordnung der Frau unter den Mann enthalten. Für die Christen wird der Schleier zum Sinnbild der Ehre, Schamhaftigkeit und Jungfräulichkeit. Der Apostel Paulus fordert von Frauen, ihr Antlitz mit einem Schleier zu verhüllen, wenn sie mit Gott reden, weil der Mann Abglanz Gottes ist und die Frau Abglanz des Mannes. Damit ist die Rolle der Frau bei uns für die nächsten Jahrhunderte vorgegeben. Durch die Kirchenväter wurde das zum Extrem getrieben. Ein Jahrhundert später wird der Kirchenvater Tertullian zum strammsten Verfechter des Kopftuchs. Alle Frauen, ob verheiratet oder nicht, sollen sich als Abbild der büßenden Sünderin Eva verhüllen: "Der Schleier ist ihr Joch." Wir wissen aber nicht, wie die Frauen zur Zeit des Propheten gekleidet waren, genauso wenig wissen wir über die Kleidung der ersten Jüdinnen und Christinnen.

Kopie nach Domenico Zampieri, gen. Domenichino, Andreas Nesselthaler zugeschrieben: Klio, die Muse der Geschichte, um 1800, Kunsthistorisches Museum Wien.
Foto: KHM Museumsverband

STANDARD: Das christliche Kopftuchgebot ist also viel eindeutiger formuliert als das islamische, dennoch ist Ersteres weitgehend verschwunden, Letzteres omnipräsent. Warum ist das so?

Steinmann: Vorweg: Es gibt heute verstärkt auch konservative katholische Fraueninitiativen, die mit Kopftuch körperferne Kleidung fordern und sich dabei auf alte Texte berufen. Auch hier existiert Druck von Religiösen auf Nichtreligiöse. Bis 1700 gab es in der christlichen Welt sehr restriktive Kleiderverordnungen, wo gesellschaftliche Ungleichheit mit standesgemäßer Kleidung abgebildet wurde. Bekleidungsvorschriften bestimmten, wie sich die Frauen Kopf und Hals zu umhüllen hatten und welche Stoffe und Farben sie ihrem Stand entsprechend dafür verwenden durften. Um 1700 ist dann Schluss in Europa mit der Abbildung ständischer Ordnung mittels Kleidung, weil man die Luxussteuer einführt.

STANDARD: Die was genau bewirken sollte?

Steinmann: Keine Verordnung kann den Wandel des Zeitstils und des Geschmacks, den Wechsel der Moden aufhalten. Die Obrigkeit gibt ihren Anspruch auf sichtbare Ordnungen auf. 1697 wird in Österreich, auch um die Staatskassa zu füllen, der Schritt von der Moral zur Ökonomie vollzogen: Die Luxussteuer für das Tragen teurer, aus dem Ausland importierter Kleidungs- und Schmuckstücke löst die ständischen Kleiderordnungen ab.

"Die Jungfrau von Guadalupe" aus Los Angeles, USA, 2008, Acryl auf Leinwand.
Foto: KHM Museumsverband

STANDARD: Die letzte Hochblüte erfuhr das christliche Kopftuch im Faschismus, wie Sie auch in der Ausstellung zeigen.

Steinmann: Ja. Kopftuch und Dirndl sind aus der politischen Ästhetik des autoritären österreichischen "Ständestaates" und des nachfolgenden Nationalsozialismus nicht wegzudenken. Im Nationalsozialismus wird Juden das öffentliche Tragen von alpenländischen Trachten verboten. Die Frauentracht wird entkatholisiert und erotisiert. Das moderne Dirndl ist geboren. Das Kopftuch mutiert zum Sinnbild des "deutschen Wesens" und "Ländlich-Sittlichen". Für die Frauen beim Reichsarbeitsdienst hingegen gehörte ein mohnrotes Kopftuch zur Uniform. Und in der Tourismuswerbung von den 1930er- bis in die 1980er-Jahre gab es kaum ein Plakat, auf dem nicht eine Frau im Dirndl und mit Kopftuch abgebildet war. Dann ist es verschwunden.

STANDARD: In islamischen Ländern tragen heute mehr Frauen das Kopftuch als vor vierzig Jahren. Warum dieser Rückfall, wenn man es so nennen will?

Steinmann: In den 60er-Jahren musste man Frauen mit Kopftuch im Nahen Osten fast suchen. Es gab etwa in Kabul zwar eine strikte räumliche Trennung zwischen Frauen und Männern, aber die Frauen waren westlicher gekleidet als heute. Ebenso in Konstantinopel, dem späteren Istanbul. Dort hat man bereits in den 1920er-Jahren westliche Badekleidung getragen, der Burkini wurde erst 2000 erfunden. In den 1970er- und 1980er-Jahren setzte ausgehend von den Golfstaaten zunehmend eine weltweite Reislamisierungs- und Rearabisierungspolitik ein.

STANDARD: Ist die Türkei ein Beispiel für diesen Schlingerkurs?

Steinmann: Im osmanischen Raum gab es bis 1829 eine sehr strenge Kleiderordnung, dann wird der Turban für weltliche Würdenträger abgeschafft und der rote Fes als nationale Kopfbedeckung eingeführt. 1925 verbietet Atatürk in der nunmehr laizistischen Türkei Fes und Schleier. Heute geht es wieder in Richtung Verschleierung. Am Beispiel des Osmanischen Reiches möchten wir zeigen, dass es in dieser Region seit 4000 Jahren immer wieder Männer gab, die sagen: Kopftuch rauf, Kopftuch runter! Es war immer ein Politikum. Gleichzeitig haben Frauen immer Wege gefunden, die Kleiderordungen zu unterlaufen.

Eine Frau der Ayt Haddidou aus Marokko in Festtagstracht, Zentraler Hoher Atlas im Jahr 1959.
Foto: KHM Museumsverband

STANDARD: Der Iran ist ein gutes Beispiel.

Steinmann: Ja. Das Kopftuch war dort stets Zeichen politischer Opposition: In den 1970er-Jahren begann man es zu tragen, um gegen die Schah-Herrschaft zu protestieren, heute legen es Frauen ab und schwenken es am Straßenrand, um gegen das religiöse Regime anzukämpfen.

STANDARD: Wurde die Verhüllung im Nahen Osten nicht auch als Protest gegen westlichen Imperialismus und Ausbeutung getragen?

Steinmann: Ich weiß nicht, ob diese Kategorien noch so greifen. Es gibt heute so viele verschiedene Gründe, warum man sich so oder so kleidet. Nehmen Sie die Mode: Hier gibt es etwa sogenannte Hidschab-Lolitas, Frauen, die eine Verknüpfung von Kopftuch und japanischer Anime/Manga-Kultur herstellen.

STANDARD: Wird die Verschleierung als Mittel zur Selbsterhöhung eingesetzt? Nach dem Motto: Ich trage Kopftuch und bin besser als ihr?

Steinmann: Das ganz bestimmt, aber nicht unbedingt im traditionellen Keuschheitssinn. Die ganze Geschichte der Mode beruht ja auf Differenzierung, um sich von anderen abzuheben. Die ersten Firmen, die das Kopftuch für sich entdeckten, waren Dolce und Gabbana, H&M, Mango, Zara und auch die Haute Couture. Das heißt im Hinblick auf Verschleierungsverbote: Welcher Politiker will sich ernsthaft gegen einen milliardenschweren Markt stemmen?

STANDARD: In Österreich diskutiert man ein Kopftuchverbot in Kindergarten und Volksschule. Richtig so?

Steinmann: Die Öffentlichkeit sollte es nicht fördern, dass Kindern Kopftücher aufgesetzt werden. Kinder unter 14 Jahren können Religiosität nur bedingt überschauen. Nach österreichischem Recht kann ein Jugendlicher nach der Vollendung des 14. Lebensjahrs selbst entscheiden, an welches Bekenntnis er sich hält.

Auch für Männer gab es stets eine Vielzahl an Kleidungs- und Bedeckungsgeboten: ein verschleierter Tuareg-Mann der Kel Rela im Jahr 1906.
Foto: KHM Museumsverband

STANDARD: Oft heißt es, eine gesetzliche Regelung von Verschleierung sei nur Symbolpolitik. Aber ist nicht gerade Symbolpolitik sehr wichtig, um den Rahmen zu definieren, in dem sich eine Gesellschaft entwickeln kann?

Steinmann: Ja. Eine Gesellschaft muss klare Richtlinien schaffen. Natürlich wird ein junges Mädchen sexualisiert, wenn es so früh Kopftuch tragen soll. Ich frage mich nur, ob man Oppression immer mit Gegenoppression beantworten kann. Da lehrt uns die Geschichte eigentlich etwas anderes.

STANDARD: Glauben Sie, dass es ein Versagen der politischen Linken ist, dass die Rechte die Kopftuchdebatte für sich vereinnahmen konnte?

Steinmann: Was man vielleicht versäumt hat, ist, dass man stärker auf die Gleichstellung von Mann und Frau pochen hätte müssen, und das zunächst einmal ganz unabhängig von der Kopftuchdebatte. Im Westen haben sich die Frauen die Gleichstellung sehr spät und mühsam erkämpft. Da darf es natürlich nicht sein, dass sich daneben religiös begründete Ungleichheiten entwickeln.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass es auch in der islamischen Welt auf lange Sicht in Richtung Säkularisierung geht?

Steinmann: Das weiß ich nicht. Die Ausstellung zeigt, dass die Bedeutung des Kopftuchs von jeher von den jeweiligen moralischen und politischen Umständen geprägt wurde, und nicht ausschließlich als religiöser Ausdruck für die Unterordnung der Frau gelesen werden kann.

STANDARD: Was kann die Ausstellung im Weltmuseum für die Kopftuchdebatte leisten?

Steinmann: Vielleicht als Beispiel: Bei der Ausstellungsvorbereitung sind junge muslimische Schülerinnen zu mir ins Museum gekommen. Als sie dann gesehen haben, wie immens breit die Kulturgeschichte der Verschleierung ist, waren sie völlig überrascht. Sie kannten das meiste gar nicht und dachten, es gebe nur einen einzigen "richtigen" Weg, das Tuch zu tragen. Wenn die Ausstellung also hilft, das Wissen zum Thema zu vermehren und Denkanstöße zu geben, ist viel gewonnen. (Stefan Weiss, 17.10.2018)