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Die irisch-nordirische Grenze ist heute nicht mehr sichtbar. Die Aufschrift, die von den "sechs besetzten Provinzen" spricht, zeigt jedoch, dass die Probleme noch aktuell sind.

Foto: Reuters/Clodagh Kilcoyne

ZIB 8:30: EU-Gipfel: "Brexit" im Mittelpunkt

ORF

Manchmal kommt es Ernie Wilson so vor, als sei alles erst gestern passiert. Dabei liegt der Sommertag, der das Leben des weißhaarigen Herrn veränderte, bereits dreißig Jahre zurück. Wilson hatte gerade im nordirischen Städtchen Lisnaskea seinen Schulbus in den zweiten Gang geschaltet, da blendete ihn ein greller Schein, "als habe direkt vor meinen Augen der Blitz eingeschlagen". Einen Augenblick später ein ohrenbetäubender Lärm – und der Reservist der britischen Armee wusste: Er war Opfer eines Bombenanschlags der irisch-republikanischen Terrortruppe IRA geworden.

Mit der Handbremse brachte er den Bus zum Stehen, "weil ich glaubte, die Beine seien weg". Das stellte sich zum Glück als Irrtum heraus. Eine resolute Jugendliche wies ihn auf eine schwerverletzte Mitreisende hin. "Ich hob das Mädchen auf und legte es auf die Rückbank. Ihre Augen verdrehten sich, ihre Atmung stoppte. Wir machten Mund-zu-Mund-Beatmung, sie kam zurück, dann übergab ich sie den Sanitätern.

Aber das Weiße in ihren Augen hat mich jahrelang im Traum verfolgt." Wilson spricht leise, zwischendurch wischt er sich Tränen aus den Augen – nicht zuletzt, als die Rede auf seinen Sohn James kommt, der sich ein Jahr nach dem Bombenanschlag 27-jährig das Leben nahm. "Er machte sich Vorwürfe, weil er den Bus nicht nach Bomben abgesucht hatte. Aber das war gar nicht seine Aufgabe."

Besuch von Arlene Foster

Regelmäßig erhält der Witwer in seinem schmucken Häuschen nahe Lisnaskea Besuch von jener resoluten Dame, die damals ihren 16 Mitpassagieren "Keine Panik!" zurief. Inzwischen ist Arlene Foster, 48, Vorsitzende der größten unionistischen Protestantenpartei Nordirlands, der DUP – und wer ihre harte Haltung im Brexit-Streit zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU verstehen will, tut gut daran, Menschen wie Wilson zuzuhören.

Sie sind überwiegend, zumal auf dem Land, sehr konservativ und religiös, beseelt von ihrer Zugehörigkeit zu Großbritannien und wenig interessiert an der Republik Irland, die von Lisnaskea höchstens zehn Kilometer entfernt liegt. Das gilt umso mehr für die Mitglieder der DUP: Diese beschreiben sich, so ergab eine Befragung des Liverpooler Politikprofessors Jonathan Tonge, überwiegend als "sehr religiös". Ein Drittel gehört der Sekte Freie Presbyterianische Kirche an, die Homosexualität für Sünde hält und den Kreationismus predigt.

Seit sie ihre unangefochtene Vormachtstellung verloren haben, sehen sich Nordirlands Protestanten jedoch in der Defensive. Bitterlich beklagen sich Aktivisten über die Auswirkungen des Friedensabkommens vom Karfreitag 1998: immer neue Zugeständnisse an die IRA-Terroristen und deren Partei Sinn Féin, zu wenig Hilfe für deren Opfer.

Das Karfreitagsabkommen sieht die Möglichkeit einer Volksabstimmung über die Wiedervereinigung mit der Republik im Süden vor, von der die sechs nordöstlichen Grafschaften der Insel 1921 abgetrennt wurden. Doch schienen sich viele Katholiken, zumal die säkular eingestellten, ganz gut mit den Verhältnissen arrangiert zu haben. Schließlich sorgte die großzügige Subventionierung von der Nachbarinsel – 70 Prozent des nordirischen Haushalts bestreitet London – für einen kommoden Lebensstandard, die Durchlässigkeit der Grenze tat ein Übriges. Bis zum Brexit.

Problem mit Ansage

Warnend hatte im Vorfeld der Volksabstimmung 2016 ein Vater des Friedensabkommens seine Stimme erhoben. Mit der EU-Mitgliedschaft könne "unbeabsichtigt auch unsere Einheit verlorengehen", redete Ex-Premier John Major (1990–97) den Nordiren ins Gewissen. Ähnlich äußerte sich die Innenministerin. Im Fall des Brexits sei es "unvorstellbar", so damals Theresa May, die heutige Premierministerin, dass die offene Grenze bleiben könne, wie sie ist.

Seit sie ihr Amt übernommen hat, redet May anders: Nun will sie die 300 Kilometer lange Grenze offenhalten, wozu eine im Dezember festgeschriebene Auffanglösung ("backstop"): Sollte keine andere Einigung zustande kommen, sollte der britische Teil der Grünen Insel in der Zollunion und weiten Teilen des Binnenmarktes der EU verbleiben. Weil sich die DUP mit Händen und Füßen dagegen wehrt, ist May von der Vereinbarung aber wieder abgerückt.

Die Nordiren stimmten vor zwei Jahren mit 56 zu 44 Prozent für den Verbleib in der EU, jüngste Umfragen ermittelten ein Verhältnis von 65 zu 35. Soll nun ausgerechnet ihre Grenze die Einigung mit der EU erschweren – oder sogar unmöglich machen? Vor zwei Jahren warben alle nordirischen Parteien für den EU-Verbleib – alle bis auf die DUP. Die Achtung vieler gemäßigter Katholiken haben Foster und ihre Leute dadurch verspielt. (Sebastian Borger aus Lisnaskea, 17.10.2018)