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Österreichs Wirtschaft kratzt an vergoldeten österreichischen Standards, die weit über den Vorgaben der EU liegen.

Foto: Reuters/ARND WIEGMANN

Was ist nötige Regulierung? Wo beginnt überbordende geschäftsschädigende Bürokratie? Es ist ein sehr schmaler Grat, an dem der Kampf gegen den österreichischen Amtsschimmel ausgefochten wird. An der einen Flanke versuchen Unternehmer überflüssigen Gesetzesballast abzuschütteln. An seiner anderen wehren sich Arbeitnehmer, Konsumenten und Umweltorganisationen gegen die Beschneidung so manch hart erkämpfter Rechte.

Die Bundesregierung verspricht Deregulierung. Für den Weg dorthin hat sie sich Anti-Gold-Plating auf die Fahne geheftet: Österreich erfüllt viele EU-Vorgaben nämlich weitaus akribischer und besser als notwendig. Doch damit soll in vielen Bereichen bald Schluss sein. Eine Liste mit fast 500 Vorschlägen aus Wirtschaft und Industrie gab einen Vorgeschmack auf mögliche Hebel für weniger Bürokratie. Seither gehen unter den Sozialpartnern die Wogen hoch.

Folgen der Deregulierung

Franz Leidenmühler, Europarechtler an der Kepler Universität Linz, hat im Auftrag der Arbeiterkammer Genese, Ziel und Folgen der geplanten Deregulierungen in der Union und in Österreich unter die Lupe genommen. Das Resümee seiner Studie: Ob bei Konsumentenrechten, Umwelt- oder Arbeitnehmerschutz – bei vielen gesetzlichen Standards dafür droht die Nivellierung nach unten.

Klar im Vordergrund stünden die Interessen der Unternehmen. Die für die Gesellschaft fallweise reklamierten indirekten Vorteile, wie etwa sinkende Preise, glichen die Nachteile durch die Absenkung der Standards kaum aus.

Rechtlich erforderlich ist Österreichs Absage an das Übererfüllen der EU-Vorgaben keineswegs, sagt Leidenmühler dem STANDARD. Das Unionsrecht erwarte von den Mitgliedsstaaten vielmehr Goldplating und räume dafür die entsprechenden Möglichkeiten ein. Denn auf Unionsebene ließen sich in vielen gesellschaftlich relevanten Bereichen nur "Minimalkompromisse mit Minimalstandards" erzielen. Setzten die Mitgliedsstaaten nicht eines darauf, verzichteten sie auf wichtigen Handlungs- und Gestaltungsspielraum.

"Unauflösbarer Widerspruch"

Für Leidenmühler ist "der sklavische Nachvollzug unionsrechtlicher Vorgaben" unvereinbar mit dem Prinzip der Subsidiarität, das die ÖVP-FPÖ-Regierung stark betone. Es sei "ein unauflösbarer Widerspruch" zur Forderung nach Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten.

Der Blick in die Vergangenheit zeigt dem Europarechtler eine erhebliche Verschiebung der Prioritäten. Stand auf EU-Ebene anfangs einfachere und bessere Gesetzgebung im Fokus, gewann ab 2007 die Entlastung der Unternehmen an Bedeutung. Ab 2012 stellte die Kommission dann die Interessen kleiner und mittlerer Betriebe ausdrücklich in den Mittelpunkt, resümiert Leidenmühler. Die Folge einer einseitigen Betrachtung: Regelungen rund um Arbeits- Sozial- und Umweltpolitik, die Unternehmer als bürokratische Last wahrnehmen, gerieten unter Druck.

Dickere Gesetzesbücher

Es sind weniger normale Bürger als Unternehmer, die den Wulst an Bürokratie abbekommen, sagt Rolf Gleißner, Sozialrechtsexperte der Wirtschaftskammer – womit sich die Stoßrichtung der Politik erkläre. "Tragen Arbeiter auf der Baustelle keinen Helm, werden nicht sie, sondern ihr Arbeitgeber gestraft." Selbst Juristen würde Vorschriften, die bei der Gründung eines Betriebs zum Tragen kommen, kaum mehr durchblicken. "Die Gesetzessammlung Kodex wird jährlich um 20, 30 Seiten dicker." Was die Goldplating-Liste betrifft, so handle es sich dabei im Übrigen nur um eine reine Auflistung, betont Gleißner. "Es ist kein Forderungsprogramm."

Für Leidenmühler geht es beim Übererfüllen von EU-Vorgaben zu 99 Prozent nicht um klassische Bürokratie, sondern um Schutzstandards. Ein Beispiel dafür sei die fünfte Urlaubswoche, die erst jüngst zur Zielscheibe wurde. Setzt Österreich die besagte Goldplating-Liste großflächig um, würde dies die Rechtsordnung jedenfalls weniger verschlanken als gehörig durcheinander würfeln. (Verena Kainrath, 17.10.2018)