Wer gehen lernen will, fällt auch hin: Leichte und leicht heilende Verletzungen sind ein Teil des Erwachsenwerdens. Das akzeptieren auch Experten für Verletzungsprävention.

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Der Brite Tim Gill hält nichts davon, Eltern als Helikoptereltern zu verurteilen, sondern gesteht jedem seine Dosis an Risikobereitschaft zu. Er ortet einen Trend in Richtung Bewusstseinbildung, den Kindern wieder Gefahren und damit ein Stück Freiheit zurückzugeben.

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Am Princess-Diana-Spielplatz in London, der jährlich Millionen Besucher anzieht, informiert ein Plakat die Eltern darüber, dass Gefahren beabsichtigt sind. Australien hat im vergangenen Herbst neue Standards für Spielplatzgeräte eingeführt, die die Betreiber auffordern, die Vorteile und nicht nur die Gefahren von Aktivitäten zu berücksichtigen, die zu Verletzungen führen können. Städte in Kanada und Schweden ziehen nach. Kinder gelten heute zwar als überbehütet, doch immer mehr Eltern und Pädagogen fordern das Recht auf Risiko zurück. Warum Kinder bis zu einem gewissen Grad Gefahr und Bewegungsfreiheit brauchen, weiß Kindheitsforscher Tim Gill.

STANDARD: Laut einer britischen Studie fühlen sich fast zehn Prozent der Kinder im Alter zwischen acht und 16 Jahren unglücklich. Gleichzeitig hatten Wahlmöglichkeiten im Leben der Kinder die höchste Korrelation zum Wohlbefinden. Bedeutet weniger tägliche Freiheit weniger glückliche Kinder?

Gill: Kinder schätzen ihre Freiheit genauso wie Erwachsene. Sie wollen die Wahl haben, wie sie ihre Zeit verbringen. Es gibt ihnen ein Gefühl dafür, wer sie sind und welche Interessen sie haben – das hilft ihnen, zu verantwortungsvollen, selbstbewussten und fähigen Menschen zu werden.

STANDARD: In Ihrem Buch "No Fear" haben Sie bereits vor zehn Jahren behauptet, dass die Kindheit durch Risikovermeidung untergraben wird. Hat sich Ihre Wahrnehmung verändert?

Gill: Das Bewusstsein, dass Risikoaversion ein Problem ist, ist gewachsen, und immer mehr Eltern und Pädagogen wollen einen ausgewogeneren Ansatz fördern. Das sieht man an Einrichtungen wie Waldkindergärten und Abenteuerspielplätzen, die sich auf der ganzen Welt ausbreiten. Aber es ist noch ein weiter Weg.

STANDARD: Spiegeln die Bedenken in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit der Kinder das tatsächliche Risiko wider? Sind Kinder heute wirklich gefährdeter als vor 30 Jahren?

Gill: In den meisten Ländern mit hohem Einkommen sind Kinder wahrscheinlich sicherer als je zuvor. Aber es fühlt sich nicht so an. Die Medien – zunehmend auch die sozialen – verstärken die Wahrnehmung von Gefahren, indem sie sich auf seltene, aber aufmerksamkeitserregende Vorfälle konzentrieren. Es gibt allerdings immer noch eine große Bedrohung für Kinder, die wir angehen müssen, und das ist der Verkehr. Erschreckenderweise ist er weltweit die häufigste Todesursache bei Kindern zwischen zehn und 19 Jahren. Es mögen zwar weniger Kinder in Ländern mit hohem Einkommen sterben, aber das liegt hauptsächlich daran, dass Kinder sich von den Straßen zurückgezogen haben.

STANDARD: In Österreich haben viele Familien ein Trampolin im Garten. Aber viele fühlen sich unwohl dabei, die Freunde ihrer Kinder in ihren Gärten spielen zu lassen, weil sie befürchten, dass Unfälle passieren könnten, für die sie verantwortlich gemacht werden. Ist diese Angst auch ein Trend?

Gill: In vielen Ländern scheinen Eltern weniger bereit zu sein, anderen Eltern – oder Kindern – zu vertrauen, und mehr Angst zu haben, beschuldigt zu werden, wenn etwas schiefläuft. Auch hier spielen Social Media eine Rolle. Wer möchte seine Fehler – egal wie ehrlich oder gut gemeint – auf Facebook teilen? Aber ich glaube, eine wachsende Zahl von Eltern fordert, dass Kinder ein bisschen mehr Freiheit haben.

STANDARD: Vor Jahrzehnten sind Kinder in verschiedenen Altersstufen oft alleine oder zusammen zu ihren Lieblingsorten gegangen, ohne Eltern. Wie hat sich das geändert und warum? Gibt es noch einen Unterschied zwischen ländlichen und städtischen Gebieten?

Gill: In Großbritannien war der größte Rückgang der Kinderfreiheiten in den 1980er-Jahren zu verzeichnen – vor dem Internet. Viele Menschen glauben, dass Kinder vom Land mehr Platz und Freiheit haben als ihre städtischen Pendants. Aber es sieht so aus, als ob das Gegenteil der Fall sein könnte. Kinder in Dörfern können weit von Schulen, Parks und ihren Freunden entfernt leben. Straßen können noch gefährlicher sein, weil sie keine Gehsteige oder Straßenbeleuchtung haben. Der öffentliche Verkehr ist oft schlecht. Wenn die Kinder also nicht von ihren Eltern mitgenommen werden können, sitzen sie zu Hause fest.

STANDARD: Eltern verbringen heute viel mehr Zeit mit der Betreuung ihrer Kinder als frühere Generationen. Laut einem Bericht der Future Foundation aus dem Jahr 2006 hat sich die Summe in nur 25 Jahren vervierfacht, von 25 Minuten pro Tag im Jahr 1975 auf 99 Minuten im Jahr 2000. Spielt hier auch Risikovermeidung eine Rolle?

Gill: Man weiß nicht genau, warum Eltern so viel mehr Zeit damit verbringen, sich um Kinder zu kümmern, als früher. Aber ich denke, dass elterliche Angst eine Rolle spielt. Nicht nur die Angst vor dem, was passieren könnte, sondern auch die Angst davor, beschuldigt oder verurteilt zu werden.

STANDARD: Woher kommt diese Angst, wann hat sie begonnen? Einige Soziologen glauben, dass die Gesellschaft als Ganzes in den letzten Jahrzehnten ängstlicher geworden ist.

Gill: Genau. Menschen vieler Kulturen verbringen weniger Zeit draußen in den Parks, Straßen und öffentlichen Räumen. Wenn die Eltern also vor ihre Haustüren schauen, sagen sie, dass weniger Menschen unterwegs sind. Wir sind soziale Tiere – wir sind gerne dort, wo wir sehen und gesehen werden können. So fühlen sich menschenleere Viertel natürlich weniger sicher an. Die gute Nachricht: Es gibt viele inspirierende Beispiele dafür, wie Menschen vor Ort zusammenkommen, um Straßen und öffentliche Plätze zurückzuerobern – in manchen Fällen mithilfe der Behörden.

STANDARD: Welche Art von Gefahr brauchen die Kinder? Brauchen sie auch blutige Knie?

Gill: Bei meiner Arbeit unterscheide ich zwischen guten und schlechten Risiken. Gute Risiken sind solche, die Kinder verstehen – wie das Risiko, von einem Baum zu fallen. Schlechte Risiken sind Risiken, die Kinder nicht so leicht bewältigen können – wie das Risiko eines sich schnell bewegenden Autos oder eines schlecht gepflegten Klettergerüsts. In ähnlicher Weise müssen wir zwischen Lernverletzungen und Katastrophen unterscheiden. Leichte und leicht heilende Verletzungen sind ein Teil des Erwachsenwerdens – oder sollten es sein. Selbst Experten für Verletzungsprävention akzeptieren das. Erst vergangene Woche war ich auf einer Konferenz, bei der eine slowenische Kinderärztin darauf hinwies, dass das Leben riskant ist. "Kinder fallen über tausend Mal hin, wenn sie laufen lernen", erklärte sie.

STANDARD: Was passiert, wenn jedes Risiko verhindert wird?

Gill: Es gibt keine risikofreie Kindheit. Jedes Kind, das laufen oder Fahrrad fahren lernt, geht ein Risiko ein. Und Kinder können sich selbst im sichersten Raum verletzen. Wenn wir Kinder zu sehr beschützen, nehmen wir ihnen Erfahrungen, die ihnen helfen, mit den Unsicherheiten des Lebens umzugehen. Die Fähigkeiten, die sie durch die Bewältigung von Herausforderungen erwerben – Konflikte bewältigen, sich vom Scheitern erholen, Probleme selbst lösen –, sind heute noch wertvoller als in der Vergangenheit. Denn wenn wir eines sicher über die Zukunft wissen, ist es, dass sie unberechenbarer sein wird als je zuvor.

STANDARD: Was ist mit dem Begriff "Hubschraubereltern"? Hat er seine Berechtigung?

Gill: Ich mag den Begriff nicht. Eltern werden von zu vielen Menschen beurteilt. Verschiedene Menschen haben eine unterschiedliche Risikobereitschaft – und das war schon immer so. Aber ich sorge mich um Eltern, die Druck auf Schulen oder Gemeinden ausüben, alles supersicher zu machen. Denn das kann für alle zu einer langweiligen, nicht abenteuerlichen Kindheit führen.

STANDARD: Die "New York Times" veröffentlichte kürzlich einen Artikel, dass Pädagogen in Großbritannien – nach Jahrzehnten in einem kollektiven Bemühen, das Risiko zu minimieren – jetzt beginnen, das zu ändern: Eine Schule experimentiert jetzt mit Feuer, Messern und verschiedenen Werkzeugen. Gibt es einen neuen Trend?

Gill: Letzte Woche habe ich gelesen, dass die Herzogin von Kent ein Fan von Outdoor-Lernen ist. Es ist also mehr als eine leichte Verschiebung. Es ist eine wachsende Bewegung, vor allem bei Pädagogen und Spielplatzgestaltern. Als Schirmherr der UK Forest School Association freue ich mich sehr darüber. Aber es ist noch ein weiter Weg, vor allem um Kinder und Familien aus ärmeren Verhältnissen und Gegenden zu erreichen, in denen es schwieriger ist, in die Natur zu gelangen.

STANDARD: In diesem Jahr haben Sie ein White Paper mit dem Titel "Playing Safe" zum Thema Risiko, Haftung und Kinderspiele im öffentlichen Raum veröffentlicht. Was sind die Elemente eines modernen Spielplatzes für glückliche Kinder?

Gill: Ein toller Spielplatz ist einzigartig und für alle Altersklassen und Fähigkeiten geeignet. Er hat Bäume und Pflanzen, es gibt Hügel, Gräben und Tunnel, die perfekt für Versteckspiele sind. Es gibt Sand und Wasser und viele Sitzgelegenheiten, die für Teenager geeignet sind – und für Eltern. Denn wenn die Eltern sich nicht wohlfühlen, gehen sie und nehmen die Kinder mit. Auch ruhige Plätze und gemütliche Räume sind wichtig, und Grasflächen, die groß genug für Ballspiele sind. Auch Geräte wie Schaukeln und Rutschen sind gut – große Korbschaukeln und breite Böschungsrutschen sind die besten. (Marietta Adenberger, 18.10.2018)