Deutsche Politiker werden nicht müde, die gewachsene Bedeutung Deutschlands in Europa, ja in der Welt zu rühmen.

Foto: Klaus Platon Grütsch

"Cicero" versteht sich als politisches Debattenmagazin. Insofern war es für uns naheliegend, eine Podiumsdiskussion mit Thilo Sarrazin zu veranstalten, der mit Sicherheit zu den umstrittensten Autoren in Deutschland zählt. Das Gespräch mit dem ehemaligen Berliner Finanzsenator sollte an einem Sonntagmorgen im März 2014 stattfinden; knapp drei Jahre zuvor war Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" erschienen, mit dem er sich wegen seiner äußerst kritischen Sicht auf Migration insbesondere aus dem islamischen Kulturkreis harte Anfeindungen eingehandelt hatte. Auch von Fragen der erblichen Intelligenz war in dem Werk die Rede gewesen – was vielfach (und sicherlich nicht zu Unrecht) als Tabubruch angesehen wurde.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich übrigens kurz nach Veröffentlichung von "Deutschland schafft sich ab" öffentlich mit der Einschätzung zu Wort gemeldet, dieses Buch sei "nicht hilfreich" – verbunden mit dem Eingeständnis, es überhaupt nicht gelesen zu haben. Das war in gewisser Weise ein Vorgeschmack auf vieles, was die politische Debattenkultur in den darauffolgenden Jahren prägen sollte.

Sarrazin niederschreien

Aber zurück zu unserer Diskussionsveranstaltung im Jahr 2014. Damals war gerade ein neuer Bestseller von Sarrazin herausgekommen, und zwar mit dem vielsagenden Titel "Der neue Tugendterror – über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland". Der Autor beklagt darin, dass in der Berliner Republik mundtot gemacht werde, wer sich erdreiste, politisch missliebige Thesen zu verbreiten. Es ging dabei zweifellos auch um ihn selbst und seine Erfahrungen nach Veröffentlichung von "Deutschland schafft sich ab". Wobei natürlich die Frage auf der Hand lag, warum sich ausgerechnet jemand, dessen Buch sich hunderttausendfach verkauft hatte, zum Opfer von Ausgrenzung stilisieren wollte. Darüber also hätten wir gern mit Sarrazin persönlich gesprochen, doch es kam nicht dazu. Denn die Talkrunde im Foyer des altehrwürdigen Theaters Berliner Ensemble wurde unmittelbar vor Beginn von 20 oder 30 Anti-Sarrazin-Aktivisten gestürmt, die unseren (aus guten Gründen unter Polizeischutz stehenden) Gast niederschrien und das Podium stürmten. Die ganze Sache musste abgebrochen werden. Dass die Demonstranten mit ihrem Störmanöver die Ausgrenzungsthese des ihnen verhassten Autors implizit bestätigten, diese Idee kam ihnen offenbar überhaupt nicht in den Sinn.

Das kleine Beispiel macht deutlich, wie unsouverän der politische Diskurs in der Bundesrepublik geführt wird – zumindest, wenn es um heikle Themen wie Islam, Migration oder Integration geht. Natürlich spielt hier die deutsche Geschichte eine Rolle, und dass in einem Land, wo der Rassenwahn vor nicht einmal 80 Jahren in einen entsetzlichen Völkermord mündete, eine besondere Sensibilität herrscht, ist nicht nur verständlich, sondern ein historischer Fortschritt. Fakt ist aber auch, dass am Horizont des Debattenraums letztlich immer die Nazi-Analogie wirkmächtig eine Grenze setzen soll. Und zwar je nach Bedarf und politischer Opportunität auch dann, wenn geschichtliche Parallelen reichlich krumm erscheinen.

Die sogenannte Flüchtlingsdebatte ist ein anschaulicher Beleg dafür, dass Sarrazins Tugendterrorbefund nicht völlig unplausibel ist. Ich spreche da aus eigener Erfahrung. Unser Magazin gehörte nach Merkels "Grenzöffnung" 2015 zu jenen wenigen Medien, die nicht in den damals alles übertönenden Chor der Willkommensjubler einstimmen wollten. Das geschah nicht aus Fremdenfeindlichkeit und sonstigen niederen Beweggründen. Sondern schlicht, weil "Cicero" es als seine journalistische Aufgabe sah, auch auf die mit einer unkontrollierten Massenmigration verbundenen Probleme und Risiken hinzuweisen. Die Anfeindungen ließen nicht lange auf sich warten – aus der Politik, aber auch von zahlreichen Kollegen. "Der Spiegel" bezichtigte uns, wir würden "völkische Propaganda" verbreiten. So viel zur Diskussionskultur.

Traurige Ironie

Eine vernünftige Debatte aber wurde damals nicht geführt, übrigens auch nicht im Parlament. Die faktische Tabuisierung des Migrationsthemas allerdings hat das gesellschaftliche Klima in Deutschland rapide vergiftet und war letztlich Kraftnahrung für die Alternative für Deutschland. Diese Partei ist inzwischen zur zweitstärksten politischen Kraft in der Bundesrepublik aufgestiegen – und sie entwickelt sich immer mehr zu einem Sammelbecken für echte (und eben nicht nur vermeintliche) Rechtsradikale. Welch traurige Ironie.

Deutsche Politiker werden nicht müde, die gewachsene Bedeutung unseres Landes in Europa, ja in der Welt zu rühmen. Im selben Atemzug ist dann immer davon die Rede, dass "wir" deshalb künftig auch "mehr Verantwortung übernehmen" müssten. Was genau damit gemeint ist, bleibt zwar meistens im Dunkeln. Aber eine Regierung, die in existenziell wichtigen Fragen die Debatte scheut, sollte ihrer Verantwortung erst einmal auf heimischem Terrain gerecht werden. In einer erwachsenen Demokratie sollten die Probleme auch wie unter Erwachsenen diskutiert werden. Sonst ist sie politisch nicht ernst zu nehmen. (Alexander Marguier, 19.10.2018)