"Bauchgefühle sind intellektuelle Flatulenzen", sagt Chemiker Martin Müller, der seit etwa zehn Jahren STANDARD-Poster ist.

Foto: Matthias Cremer

Martin Müller hat es mit Zahlen. Er erklärt mit ihnen gerne die Welt. Seit etwa zehn Jahren tut er das manchmal auch im STANDARD-Forum. Als aktiver User. Dass er unter seinem Klarnamen postet, ist für ihn selbstverständlich. "Ich stehe zu meinen Unflätigkeiten", sagt der 53-jährige Wiener gerade heraus, als er sich im Schanigarten der Redaktion eine Zigarette anraucht.

Wobei er gar nicht besonders oft unflätig gewesen sein dürfte. Von rund 40.000 Postings, die er bereits im Forum abgesetzt hat, sind nur drei Prozent gelöscht worden, rechnet er vor. Und davon nur die Hälfte wegen Müller selbst. Die andere Hälfte deshalb, weil sie eine Antwort auf ein Posting eines anderen Users waren, das an sich eine Grenze überschritten hatte und gelöscht wurde, womit auch alle Reaktionen weg sind.

Martin Müller ist gelernter Chemiker und hat den STANDARD von Anbeginn gelesen. Da er jahrelang sehr viel im Ausland arbeitete, wuchs ihm auch die Onlineversion der Zeitung ans Herz: "Ich war beruflich in Libyen, Saudi Arabien und auf den Philippinen, vor allem 2000 und 2001, als ich länger in Libyen war, ist der STANDARD meine Informationsquelle aus der Heimat geworden". Bald sah er auch, dass es da "eine relativ vitale Community gibt".

Politik und Gini-Koeffizient

Vor allem politische Themen regen Müller zum Mitposten an. Was ihn am schnellsten aufrege? "Die politische Entwicklung in Österreich, der Rechtsruck, die Unfähigkeit des wählenden Publikums! Dass sich Leute einreden lassen, Flüchtlinge seien unser Problem, damit die Regierung ihr wirtschaftsliberales Programm durchbringen kann." Müller ist bereits in Fahrt: Und er lässt auch mit der Bundesregierung keine Rechnung offen: "Kennen Sie den Gini-Koeffizienten? Das ist eine Maßzahl für die Einkommensverteilung." Wenn der Koeffizient bei null liegt, herrscht Gleichverteilung. Müller erklärt, während sich der Aschenbecher vor ihm weiter füllt, wie man den Gini-Koeffizienten aus dem Median, dem mittleren Vermögen, und dem Durchschnittsvermögen berechnen lässt. Dass sich Ungleichheit "unter dieser Regierung vergrößern wird, kann man berechnen", sagt er, "das wird auch von der Statistik Austria erhoben".

Abgesehen von Politik interessiert sich Müller – berufsbedingt – vor allem für wissenschaftliche und technische Themen. Da sei der STANDARD "sehr fundiert". Vor allem von den Redakteuren Andreas Proschofsky (Web) und Klaus Taschwer (Wissenschaft) ist er ein ausgewiesener Fan. In Müllers erstem Posting ging es um den Mars und die chemische Reaktion der Disproportionierung.

Auch wenn sich Müller viel und gerne im STANDARD-Forum austauscht, wann immer er Zeit dafür hat, oftmals auch schon beim Frühstück, findet man ihn sonst nirgends im virtuellen Raum: "Ich bin ein völliger Verweigerer sozialer Medien! Der Mizi-Tant ihre Blähungen oder wer auf welcher Party war, interessiert mich auch im physischen Leben nicht." Im echten Leben traf er erst einmal einen anderen User. "Menschen sind nicht so mein Hobby", meint er nüchtern, "große Zusammenkünfte schätze ich nicht."

Was Müller wirklich besonders wichtig sei, "ist die Frage der Offenheit und Toleranz einer Gesellschaft". Mit Religionen kann er nichts anfangen: "Wenn ich von der christlichen Leitkultur höre, krieg ich rote Flecken im Gesicht", sagt Müller, "jede monotheistische Offenbarungsreligion steht für Intoleranz und glaubt, sie hat die eine unhinterfragbare Wahrheit". Über Religionen braucht er deshalb auch nicht mehr diskutieren: "Ich leite mir ja auch nur einmal die Formel für den Umfang eines Kreises aus dem Radius her, und dann passt es. Da muss man nicht jedes Mal neu herleiten." Bauchgefühle seien für ihn nur "intellektuelle Flatulenzen".

Ausländerfeindlichkeit rege ihn ähnlich auf, da sei er empfindlich, das "liegt vielleicht auch daran, dass meine Tochter zwei Staatsbürgerschaften hat". Ob der Ton im Forum diesbezüglich härter geworden ist? "Ja, unter allen Umständen", sagt Müller. Er bleibt aber trotzdem. Auch statistisch gesehen ist das erfreulich.(Colette M. Schmidt, 19.10.2018)