Was wäre DER STANDARD (online) ohne seine Poster? Sagen zumindest einige eifrige Poster ("Ich bin ja nur hier wegen der Postings"). Jedenfalls ist die STANDARD-Community das größte Zeitungsforum in Österreich. Zu Artikeln und Kommentaren auf derStandard.at erscheinen bis zu 40.000 Postings. Pro Tag. Das macht heuer rund 10,4 Millionen Postings. Unter einem Einserkastl von "RAU" (etwas mehr als 200 pro Jahr) oder der längeren Rauscher-Kolumne (rund 90 pro Jahr) stehen, je nach Aufregerfaktor des Themas, zwischen 200 und 2.000 Postings.

Aber was in Wirklichkeit die allermeisten "User" am STANDARD-Forum schätzen, ob sie nun selbst posten oder nicht, ist die Möglichkeit der freien Debatte.
"Das STANDARD-Forum ist das letzte, wo noch mehrere unterschiedliche Meinungen anzutreffen sind", sagt etwa Posterin "Madame Schmeckenwasser".
Der Poster "Liberaler Atheist" wiederum spendet – bei aller sonstigen Kritik – "großes Lob, dass so viele unterschiedliche und teilweise nicht zur Blattlinie passende Meinungen zugelassen werden".

Der "Liberale Atheist" in direktem Austausch mit Hans Rauscher. Die Poster wollen wie die meisten anonym bleiben.
Foto: Matthias Cremer

Und Posterin "vergib ihnen, denn" sieht das Forum als "tägliche Reibungsfläche", auch wenn sie ambivalent bleibt. Der wahre Grund, warum sie postet, sei "Ärger über fehlende Aspekte", auch in der Berichterstattung, und das "will ich korrigieren".

Die Damen "vergib", "Schmeckenwasser" und der Herr "Liberaler Atheist" sind regelmäßige Poster. Aus dem Anlass "30 Jahre STANDARD" war die Idee entstanden, mit kritischen Postern direkt in Kontakt zu treten und sie nach ihren Motiven, Eindrücken und etwaigen Vorschlägen zu fragen.

Links, liberal, rechts

Warum ausgerechnet diese drei Personen? Wir schrieben zehn Poster an, die sich kritisch geäußert hatten. Ein Kriterium war, dass sie nicht exklusiv, aber doch häufig unter den Kolumnen von "RAU" posten. Diese drei, alle in verantwortlichen Positionen, altersmäßig zwischen Ende dreißig und über 50, waren zu einem Treffen bereit. Die Kritik kommt von links, liberal und rechts.

"Madame Schmeckenwasser" ist in einem Großkonzern im mittleren Management tätig. Sie kennt syrische Flüchtlinge und versteht nicht, warum man diesen echten Kriegsflüchtlingen unterstellt, sie wollten ja nur in den österreichischen Sozialstaat einwandern. Bei "RAU" stört sie gelegentlich der Hinweis auf die mangelnde Modernität vieler muslimischer Gesellschaften: "Man vergisst, dass der Imperialismus deren Kultur zerstört hat. Wenn schon religionskritisch, dann allen Religionen gegenüber." Als die Stimmung gegenüber den Flüchtlingen kippte, begann sie wieder zu posten (was sie zuletzt aus Zeitmangel zurückgestellt hatte), "weil so viele Panik verbreiten". Aber als sie ihre Postingtätigkeit wieder aufnahm, hatte sie ein befreiendes Erlebnis: "Ich hatte schon gedacht, ich bin allein mit meiner Meinung, aber das war nicht so."

"Liberaler Atheist" hingegen findet "RAU" und liberale Journalisten ganz generell blind gegenüber dem Hauptthema muslimische Einwanderung. "Sie können nicht verstehen, was in 20 oder 30 Jahren auf uns zukommt. Das Stadtbild von Wien hat sich bereits total verändert. Im Zweifelsfall Humanität walten zu lassen geht, wenn es sich um ein paar Tausend handelt, aber nicht bei so vielen."

"Liberaler Atheist" ist Wirtschaftsberater und im internationalen Kontext tätig. Er gesteht, dass er als eher liberaler Wechselwähler "wegen der muslimischen Problematik ganz bewusst Sebastian Kurz gewählt" habe. Und, "um auch das gleich offen zu sagen: Wer die muslimische Migration bekämpft, braucht für eine gewisse Zeit eine Koalition mit den Rechten, weil die SPÖ das Problem negiert". Daher: "2017 war mir bewusst, dass man die FPÖ in einer Koalition braucht, um das Problem in den Griff zu kriegen". Wobei er die bisherigen Maßnahmen der Regierung für "lächerlich" hält.

Posterin "vergib" hat eine Praxis für "Coaching, Typenberatung und Beziehungsmanagement". Sie ist "Text- und Sprachentwicklerin, ehemals Dolmetscherin und Verlegerin".

Meinungsterror

Im Gespräch sagt sie, dass "Sprache und ihre Wirkung für mich sehr wichtig sind – ein Trigger bei mir ist, wenn der soziale Friede gefährdet wird". Sie bedauert die "zunehmende Verrohung der Sprache in der öffentlichen Debatte". "Das ist eine tragische Entwicklung, Spott und Meinungsterror nehmen überhand, auch bei den Postern." Das habe mit der Eurokrise und dem Umgang mit Griechenland begonnen. "In letzter Zeit führen einzelne Medien Politiker unerbittlich nach Lust und Laune im Stakkato zur Schlachtbank, das hatte ich so noch nicht erlebt."

Bei "RAU" stört "vergib" der Fokus auf Muslime: "Wenn es um Muslime geht, sind Journalisten oft auf dem christlichen Auge blind. Die Christen haben eine grausame Geschichte. Die Bibel schreibt auch keinen Kindesmissbrauch vor, dennoch passiert er. Vieles ist in der Tradition begründet, nicht in der Religion." Außerdem: "Beide, Muslime wie Christen, begehen ihre Verbrechen nicht, WEIL sie Muslime oder Christen sind, sondern ALS Muslime/Christen".

Auf gesellschaftspolitischem Gebiet sei "RAU" gegen Verteilungsgerechtigkeit (Vermögenssteuer), das gefährde das Gemeinwohl und den sozialen Frieden.

Was antworten? Selbstverteidigung und Verteidigung der Linie des STANDARD waren nicht so sehr das Ziel dieser Gespräche, sondern eher Zuhören. Immerhin aber so viel: Zum Thema "Verteilungsgerechtigkeit" (Vermögens-, Erbschaftssteuer) wurde immer argumentiert, dass man über eine zusätzliche Steuer nur reden könne, wenn die Abgabenbelastung bei den Einkommen gemildert würde. Und zum Thema Muslime nur eines: Es muss zwangsläufig zu Problemen kommen, wenn ein säkularisiertes Europa mit einer wachsenden Bevölkerungsgruppe konfrontiert wird, bei der die Religion das ganze Leben bestimmt (bestimmen will).

"Madame Schmeckenwasser" verwendet, wie die allermeisten Poster, einen "Nickname".
Foto: Matthias Cremer

Übrigens: Ursprünglich hieß das Projekt "RAU diskutiert mit seinen Trollen". Das ließ sich jedoch nicht durchhalten. Denn die sogenannten Trolle wollen im Netz nicht diskutieren, sondern nur provozieren und disruptiv sein. Poster unter Trollverdacht wurden auch angeschrieben, aber es hat sich keiner gemeldet.

Die Diskussion findet in den allermeisten Fällen anonym statt, das heißt mit einem "Nickname" (kurz: Nick). Das reicht von bodenständigen Nicks wie "ärger ois deix" (Bezug auf den berühmten Karikaturisten) oder "ehollaswurscht" (selbsterklärend) bis zu elaborierten Nicks wie "marmota_phil, punxsutawneyi cives" (offenbar eine Anspielung auf den Film "Und täglich grüßt das Murmeltier").

Die Anonymität verführt zwar manchmal zu polemischen Exzessen, erlaubt es aber andererseits, kritische Postings ohne die innere Schere im Kopf (was sagt der Arbeitgeber dazu ...) abzusetzen. Im Übrigen ist es mit der Anonymität vorbei, wenn sich bei strafrechtlich relevanten Äußerungen der Staatsanwalt einschaltet. Und, sehr wichtig: Beim STANDARD muss man mit validierter E-Mail-Adresse registriert sein, um posten zu können. Immer wieder ertönt der Poster-Aufschrei "Zensur!". Was etliche Poster nicht zu begreifen scheinen: Auch DER STANDARD hat eine rechtliche Verantwortung für die Postings. Meinungsfreiheit ist nicht die Freiheit zur Beleidigung oder Unterstellung.

Manche Poster haben über die Jahre zehntausende Postings abgesetzt, die drei befragten Poster pendeln zwischen einigen hundert und einigen tausend.

Neuordnung der Postings

Wir haben die drei gefragt, was ihre Vorschläge zur Verbesserung des Online-Auftritts wären: "vergib" meint, man solle die Vielzahl der Postings zu einem Artikel nach Bedeutung gliedern, etwa: Kritik/Korrektur/Faktencheck/ergänzend. Bei den Artikeln selbst findet sie, man solle besser nach Relevanz und nicht nach Chronologie ordnen, unbedingt mit Datum. "Oft macht man auf, und es ist dann alt. Das ist ärgerliche Zeitvergeudung." Und grundsätzlich: "Lieber, als Postings zu lesen, wären mir neue Medien (Beilagen), in denen sich die Leser wiederfinden. DER STANDARD – Zeitung für Leser, von Lesern." Und: "DieStandard auflösen. #MeToo ist genauso Männerthema wie Frauenthema. Man soll drängende Gesellschaftsthemen nicht allein den Frauen umhängen."

"Liberaler Atheist" findet, die Auswahl der "Top-Postings" sei zu sehr von den politischen Vorlieben der Redaktion bestimmt. Generell verbringt er "verdammt viel Zeit beim Lesen von Postings – aber man bleibt halt hängen". Was er schätzt, sind Postings, in denen weiterführende Links oder gar Insiderinformationen stehen.

Feedback und Korrektiv

"Madame Schmeckenwasser" meint, Demokratie und Meinungsvielfalt müsste den Lesern etwas wert sein. Der britische "Guardian" zum Beispiel fordert ja seine Online-User auf, mittels eines Mitgliederbeitrags (50 Pfund) "Guardian Member" zu werden: "Ihr Beitrag hilft furchtlosem, unabhängigem Journalismus, zu überleben und zu prosperieren."

Schlussbemerkung des Autors: Die Gespräche mit den Postern verstärken noch die bisherige Erfahrung: Bei aller Problematik mit manchen mühsamen Zeitgenossen, Postern und ausgesprochenen Trollen – die Postings geben (zusammen mit den Zugriffszahlen) wertvolles Feedback, was den Lesern wichtig ist und was nicht. (Hans Rauscher, 19.10.2018)