Die erfolgreichen Fußballer tobten über den Rasen, die Zuschauer auf den Rängen: Nach dem zweiten Coup innerhalb von drei Tagen ist in Gibraltar Euphorie angesagt. Nach dem 2:1-Heimsieg über Liechtenstein lebt unter dem Affenfelsen der Traum von der Teilnahme an der Europameisterschaft 2020.

Unter dem Affenfelsen lässt es sich gut Fußball spielen. Der Boden ist iberisch, der Rasen ist englisch, die Hoffnungen sind weiter gefasst, also europäisch.
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"Das ist die glücklichste Nacht in meinem Leben", sagte Trainer Julio Ribas, nachdem die Mannschaft des 61-Jährigen aus Uruguay dem 1:0 in Armenien den zweiten Sieg in der Nations League folgen hatte lassen. Zuvor waren die Auswahlkicker des britischen Überseegebiets nach sämtlichen 22 Pflichtspielen seit 2013, seit Aufnahme ihres Verbandes in die europäische Fußballunion (Uefa), als Verlierer vom Platz gegangen.

Der Zauber der Nations League

Am Beispiel Gibraltars offenbart das heftig kritisierte Konstrukt Nations League seinen Zauber. Die Gegner in dieser speziellen Qualifikation sind plötzlich schlagbar – in den bisherigen Ausscheidungen konnte sich Gibraltars Mannschaft nicht entwickeln, nur demütig Prügel einstecken – zum Beispiel im Ausmaß von 0:7 gegen Deutschland, von 1:8 und 0:7 gegen Polen oder von 0:9 gegen Belgien.

Im Pool der Underdogs sind plötzlich Erfolgserlebnisse möglich. Gegen Liechtenstein, Nummer 178 der Weltrangliste, glückte der Nummer 198 nicht nur der erste Heimsieg, erstmals wurde ein Spiel gedreht, weil ebenfalls erstmals zwei Tore gelangen.

Dennis Salanovic hatte die seit 2012 vom Österreicher René Pauritsch betreuten Gäste in Führung gebracht, doch George Cabrera und der schon gegen Armenien erfolgreiche Joseph Chipolina trafen vor 5.000 entfesselten Zusehern im Victoria-Stadion. Liechtenstein, im Hinspiel noch 2:0 erfolgreich, war restlos bedient. Die Zeitung "Liechtensteiner Vaterland" schrieb von einer Blamage, die "in diesem Maße nicht hätte passieren dürfen, denn spielerisch hatte Gibraltar nichts zu bieten".

Die Zweitjüngsten

Mag sein, dennoch steht Coach Ribas Truppe mit allen Chancen an zweiter Stelle der vierten Gruppe zur vierten Nations-League-Division. Die Gruppensieger spielen im Frühjahr 2020, nach der regulären EM-Qualifikation, untereinander in einem Playoff um ein EM-Ticket. Derzeit wären das abseits der Gibraltar-Gruppe, die Mazedonien anführt, Georgien, Luxemburg und der Kosovo. Allesamt achtbare, aber nicht unbezwingbare Gegner selbst für das nach dem Kosovo (2016) zweitjüngste Uefa-Mitglied.

Wie die Nations League funktioniert, sehen Sie im Video.
DER STANDARD

Der Erfolg der Fußballer lässt die Fans unter den 32.000 Einwohnern Gibraltars wachsende Sorgen, wie sich nach dem wahrscheinlichen Brexit das ohnehin stets angespannte Verhältnis mit Spanien entwickeln könnte, zeitweilig vergessen. Der Groll des großen Nachbarn, dem der Felsen 1704 entrissen worden war, nährte sich auch durch die mittels Klage vor dem Sportgerichtshof CAS erzwungene Aufnahme der Gibraltar Football Association in den Weltfußballverband. Die Fifa-Granden hielten es bis dahin mit den Spaniern, die argumentierten, dass Gibraltar eben kein unabhängiger Staat sei. Die Spanier haben auch andere einschlägige Begehrlichkeiten hintanzuhalten. Vor der Aufnahme der Federació Catalana de Futbol schreckt selbst die Uefa noch unter dem Hinweis zurück, dass Katalonien integraler Bestandteil von Spanien sei. Bei Gibraltar und Großbritannien lässt sich das – mit Mühe, aber doch – anders sehen.

Acht der gegen Liechtenstein eingesetzten Spieler stellte Meister Lincoln Red Imps, dazu kamen drei weitere Spieler aus der nationalen Premier Division und drei Legionäre von semiprofessionellen englischen Klubs. Die bestenfalls Halbprofis von Gibraltar sehen die Möglichkeit, auf anderem Weg Europa weiter zu entzücken – am 16. November daheim gegen Armenien und drei Tage später in Mazedonien. (Sigi Lützow, 18.10.2018)