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Aktivisten einer spanischen NGO retten Flüchtlinge 64 Kilometer vor der spanischen Küste.

Foto: ap/Javier Fergo

Soll ein österreichischer Bundeskanzler private Seenotretter mit Schleppern gleichsetzen? Sebastian Kurz hat das in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" getan und Kritik, nicht nur von NGOs wie Ärzte ohne Grenzen, geerntet. Konkret sagte er: "Es kann doch nicht sein, dass ein paar Nichtregierungsorganisationen das klare Ziel der 28 Staats- und Regierungschefs in Europa konterkarieren. Und das nicht nur mit dem Ziel, Leben zu retten, sondern gemeinsam mit den Schleppern Menschen nach Mitteleuropa zu bringen."

Auch in der STANDARD-Redaktion wird über Kurz' Sprache zur Migration diskutiert. Eric Frey etwa schreibt im Pro-und-Kontra-Kommentar, die Sprache des Bundeskanzlers sei "sachlich, nüchtern und meist empathiefrei". Nur so könne "die Politik glaubwürdig bleiben". Petra Stuiber hingegen mahnt ein, dass Sprache und "vereinfachende Botschaften" auch Feindbilder schaffen. So könnte Kurz etwa "das moralische Dilemma ansprechen". In der STANDARD-Leserschaft finden sich gleichermaßen Pro- und Kontra-Stimmen. Ein Auszug der Leser- und Userstimmen.

Eine Frage der Moral

Ist die Rettung von Menschenleben ein Appell oder ein Argument? Für Leser Heinz Niederleitner aus Traun ist es eindeutig Letzteres:

"Eric Frey meint, der Satz 'Wir können ja die Menschen nicht ertrinken lassen' sei kein sachliches Argument, sondern nur ein emotionaler Appell. Das finde ich nicht: Die Entscheidung, ob man Menschen vor dem Ertrinken retten will oder nicht, ist nicht zuletzt eine Frage der Moral. Insofern ist eine Haltung, welche die Rettung von Menschenleben an erste Stelle stellt, ethisch und damit sachgerecht begründbar – mit anderen Worten: ein Argument. Zu argumentieren, man nehme das Ertrinken von ein paar Menschen in Kauf, um den Pull-Effekt bei einer größeren Gruppe zu vermeiden, mag auch eine Antwort auf die genannte Frage sein – meines Erachtens die falsche, weil es ethisch untragbar ist, auf diese Weise Menschenleben gegen Menschenleben aufzuwiegen. Mit Emotion muss all das nichts zu tun haben – darf es aber."

Komplexe Zusammenhänge

Leser Erich Kainz aus Wien findet, dass ein derart komplexes Thema zu stark vereinfacht wird:

"Kurzens Sprache sei sachlich und nüchtern und er spreche allgemein verständlich über komplexe Zusammenhänge – ja, wirklich? Die Komplexität der Umstände der vornehmlich aus dem Nahen Osten und Afrika fliehenden Menschen erschöpft sich demnach in der Tatsache ihres Auftretens. Man verzeihe, aber die Komplexität der getroffenen Aussagen zur Krise im Mittelmeer lässt sich in etwa mit der knallharten und nüchternen Feststellung vergleichen, angesichts der globalen Erwärmung seien die angezeigten 40 Grad Celsius zu hoch. Ja, und? Die politischen und ökonomischen Ursachen der Flucht- und Wanderbewegung sind zu erheblichen Teilen von Europa und Amerika schon seit Jahrhunderten geschaffen worden und werden es bis heute. Begonnen von den Sklavendeportationen, Plünderungen und Ausbeutungen über Kolonisation und deren unreflektierte Beendigung sowie die bis heute zunehmenden Land-(Agrarkonzerne-) und Rohstoffexpropriationen reicht die westliche, neoliberale, dem freien Waren- und Geldverkehr bedingungslos verpflichtete Einflussnahme. Ja, und dann kommt einer, quasi ein Messias in Person, daher und erkennt in ein paar 'Seelenverkäufern' (= seeuntüchtige Schiffe) die wahre Komplexität. Sein Völkchen aber hängt beglückt an seinen Lippen, und ganz Verwegene meinen, na, so unempathisch sollt er doch nicht reden – sein, ja, vielleicht. Es lebe der reflexionsfreie Journalismus!"

Unklares Geschwurbel

Poster "Gereon" hätte gerne, dass es mehr um Inhalte und weniger um Zuschreibungen geht:

"Die klare, sachliche Sprache von Kurz ist das, worum uns viele Deutsche beneiden. Das unklare Geschwurbel, das viele deutsche Politiker und Publizisten in den letzten drei Jahren von sich gaben, hat sich sehr negativ auf die Stimmung in Deutschland ausgewirkt, bin hin zu den Wahlergebnissen, die wir heute sehen. Framing wird meines Erachtens viel stärker von denen betrieben, die eine klare Sprache scheuen und sich stattdessen dauernd fragen, ob nicht vielleicht die AfD schon mal etwas Ähnliches gesagt hat. Am Schluss geht es dann nicht mehr um Inhalte, sondern nur noch um die Zuschreibung zu bestimmten Sprechern. Das bringt uns keinen Schritt weiter."

(K)eine Lösungsmöglichkeit

Über positives, negatives und falsches Framing sinniert Poster "bixente uhudla":

"Wenn man die NGOs im Mittelmeer ausschließlich als 'Schlepper' bezeichnet, dann ist das Framing zu negativ, wenn man sie ausschließlich als 'Retter' bezeichnet, dann ist das Framing zu positiv. Die Wahrheit liegt dazwischen. Die retten Menschenleben, aber sie motivieren auch Menschen, diese lebensgefährliche Überfahrt mit ungewissem Ausgang erst zu riskieren. Das vielzitierte 'Fluchtursachenbeseitigen' alleine wird nicht ausreichen, dauert zu lange und ist zudem das falsche 'Framing', weil es in den meisten Fällen eben nicht mehr um Flucht geht, sondern um Migration. Lösungsmöglichkeit: keine Ahnung ..."

Klartext reden

Poster "Mont Pellerin" hat sowohl bei Frey als auch bei Stuiber gute Argumente gelesen. Er schätzt Kurz' Klartext:

"Bravo – gute Argumente von beiden Seiten. Letztlich ist Kurz glaubwürdig, weil er in der heiklen Sache Klartext redet."

Eine Mitschuld?

Poster "Sebastian Mifid" ist bei näherer Überlegung zwiegespalten:

"Noch nie habe ich mich in ein Rettungsboot gesetzt und irgendwem geholfen. Ich werde es vermutlich auch nie tun. Lasse ich nun Menschen einfach ertrinken? Ist deren Not nun meine Schuld, weil ich nicht eingreife? Muss ich schlecht schlafen? NEIN. Das wäre ja Wahnsinn, so zu denken! Und ich lass mir auch von keinem sagen, ich müsse da Verantwortung empfinden! Andererseits: Wieso sollte ich andere Menschen anfeinden, die sich dazu berufen fühlen zu retten? Wenn ich anderen befehle, mit dem Retten aufzuhören, ja, dann wäre es doch eine Mitschuld, wenn dann einige Menschen ertrinken. (...) Wer bin ich, 500 Menschen sterben zu lassen, damit 1.000 andere später nicht sterben? Sicher nicht!"

Einzelschicksale und das große Ganze

Für Poster "reflexi0n" sollte die Community zwei Dinge unterscheiden:

"Das Problem einiger User hier ist, dass sie zwei wesentliche Dinge einfach nicht unterscheiden können: 1) Betrachtung von Einzelschicksalen, 2) Suchen einer langfristigen Gesamtlösung. Betrachtet man Punkt eins, wird man sehr emotional gebunden. Man möchte jeden Einzelnen retten und helfen. Diese Gefühlslosigkeit wird ja oft S. Kurz vorgeworfen. Natürlich ist jeder Tote einer zu viel. Das Problem an dieser kurzfristigen Logik ist allerdings, dass es langfristig zu noch mehr Schäden führen kann (und wahrscheinlich wird). Deshalb muss ein rationaler Mensch Punkt zwei emotionslos thematisieren und ansprechen und Punkt eins ausblenden. Denn nur so kann man langfristig das Problem lösen, ohne es zu verschlimmern, nur weil man wie in Punkt eins diese Sachlage mit zu viel Emotionen analysiert."

Und wie sehen's Sie? (sb, 18.10.2018)