Theresa May am Mittwoch in Brüssel.

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So schnell kann das gehen: Noch vor einer Woche gab es in Regierungszentralen und Medien quer durch Europa helle Aufregung zum Thema Brexit. Ein Abschluss der Verhandlungen zum EU-Austritt Großbritanniens könnte unmittelbar bevorstehen. Schon beim EU-Gipfel diese Woche würden die Staats- und Regierungschefs nach einem nachtlangen Ringen einen fix-fertigen Austrittsvertrag präsentieren können. Dann sei der Weg frei für den formellen und offiziellen Abschied der Briten am 29. März 2019, Mitternacht. Eine geordnete Scheidung also, schlimm, aber okay.

Dieser Optimismus war für die breite europäische Öffentlichkeit in dem Sinn überraschend, als vor vier Wochen nach dem informellen EU-Gipfel von Salzburg von vielen – insbesondere der britischen "Kampfpresse", die den harten Abgang täglich herbeizuschreiben versucht – so ziemlich genau das Gegenteil behauptet wurde. Da hieß es, die EU-27 hätten Premierministerin Theresa May gedemütigt und kalt abfahren lassen. Sie werde ihren Parteitag kaum überleben. Ein harter Brexit ohne Abfederungsmaßnahmen sei kaum mehr zu vermeiden. Die Zeit laufe allen Beteiligten davor.

Einmal wieder alles anders

Nach dem jüngsten EU-Gipfel in Brüssel ist nun wieder alles anders. Das Arbeitsessen der Regierungschefs der EU-27, bei dem sie (ohne May) über ihre künftige Brexit-Strategie redeten, endete nach rekordverdächtig kurzen drei Stunden. Davor hatte ihnen die britische Premierminister in ebenso kurzen 15 Minuten noch einmal erläutert, wie sie sich eine Lösung im Guten vorstellt.

Danach redete keiner mehr von Zeitdruck. Es wurde auch nicht gestritten, sondern betont, dass EU-Chefverhandler Michel Barnier beauftragt sei, die Verhandlungen "in Ruhe fortzusetzen". Kanzler Sebastian Kurz gab als EU-Ratspräsident gar zu Protokoll, dass er eine gütliche Einigung "in den kommenden Wochen und Monaten" für möglich halte.

Man reibt sich fast die Augen. Wie ist ein derartiges Auf und Ab in einer der wichtigsten politischen Fragen der Gemeinschaft seit langem möglich? Wie kann es sein, dass innerhalb nur weniger Tage ein totales Scheitern mit allen negativen Konsequenzen für Menschen und Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals ebenso ins Kalkül gezogen wird wird wie eine Scheidung im Guten? Die Antwort ist relativ einfach: Die Zeit ist noch lange nicht reif für den ultimativen Showdown, der Druck bei den Regierungschefs auf beiden Seiten des Verhandlungstisches noch nicht groß genug, um eine Entscheidung zu erzwingen und im Anschluss daran die jeweils eigene Bevölkerung von den Ergebnissen zu überzeugen.

Wegverhandeln, bis zu den großen Brocken

Da es noch nie Austrittsverhandlungen gegeben hat, muss man auf die Abläufe bei EU-Beitrittsverhandlungen verweisen, um solche Prozesse zu verstehen. Auch dabei werden zuerst die "leichten" Themen wegverhandelt. Beim Brexit sind 90 Prozent des Austrittsvertrags bereits unter Dach und Fach. Es bleiben nur noch zwei, drei ganz große Brocken, die nicht so einfach von Beamten und Experten gelöst werden können, weil sie ihrer Natur nach eine politische Entscheidung erfordern.

Das größte Problem beim Brexit ist eine Lösung für die (derzeit offene) innerirische Grenze. Wenn Großbritannien austritt, wird Nordirland für die EU zum Drittland, muss geklärt werden, wie man dann den Binnenmarkt schützt. Normalerweise passiert das durch Grenzkontrollen. Aber genau das soll im Spezialfall Irland nicht geschehen. Es soll auf lange Sicht eine offene wie gleichzeitig geschlossene Grenze geben. Die EU würde Nordirland weiter als Teil des EU-Binnenmarkts akzeptieren, wenn dort die EU-Regeln (und die Gerichtsbarkeit des EuGH) gelten, was London aber naturgemäß ablehnt, weil das die staatliche Souveränität aushebelte.

Dieses Paradoxon kann niemand wirklich sauber lösen. Die übrigen großen Probleme wie etwa die Frage, wie viele Dutzend Milliarden Euro die Briten für den EU-Austritt zahlen müssen oder wie man Rechte von EU-Bürgern im jeweils anderen Gebiet absichert, erscheinen im Vergleich relativ klein.

Zeit kaufen und "gewinnen"

Der Gipfel hat dazu nun dennoch ein wichtiges, vielleicht sogar vorentscheidendes Ergebnis gebracht. May und ihre 27 Regierungspartner haben sich auf ein gemeinsames Vorgehen – auf einen Mechanismus – verständigt, mit dem es seit Jahrzehnten gelungen ist, schwierigste Hürden zu überwinden: Sie wollen erstens Zeit "kaufen" und gewinnen. Und sie wollen bei der Umsetzung des Brexits nach dem Austrittsdatum 29. März schrittweise – in längeren Phasen – vorgehen.

Bisher war vorgesehen, dass es nach dem Austritt eine "Übergangsperiode" von nur 21 Monaten geben solle, in der "das irische Problem" gelöst werden soll, indem man ein Freihandelsabkommen für ganz Großbritannien aushandelt, was die Grenzfrage – Zölle und Hygienestandards bei Agrarprodukten – obsolet macht. Für den Fall des Scheiterns eines solchen Abkommens hat die EU bisher eine "Rückfallregelung" für Nordirland eingefordert, sprich: Es sollte "auf ewig" weiter in der EU-Zollunion bleiben können, auch wenn das Königreich ausscheidet.

Nun hat May in diesem Punkt Bewegung angedeutet: Man könnte doch einfach die Übergangszeit nach dem Brexit für ganz Großbritannien verlängern. Dann würden zwar die EU-Regeln für alle Briten länger gelten, London müsste länger ins EU-Budget einzahlen – aber die Nordirland-Frage wäre entspannt, und vor allem hätten die Bürger und die Wirtschaft in allen Ländern viel länger Zeit, sich auf die neuen Zeiten einzustellen. So könnte eine Win-win-Situation für alle Beteiligten eintreten. Der harte Brexit mit allen katastrophalen Folgen wäre vermieden.

Offen bliebe, ob May, die im Grunde immer auf einen weichen Brexit baute, damit zu Hause bei den Hardlinern durchkäme, ob das Unterhaus dem mit Mehrheit zustimmen könnte. Um das sicherzustellen, muss sie Zeit gewinnen, um dann umso rascher eine Entscheidung herbeizuführen. Wenn der Brexit-Vertrag erst im Dezember vereinbart wird, bliebe keine Zeit mehr, das Ergebnis bei den Tories lange zu zerreden. Dann müssten die britischen Abgeordneten, auch diejenigen von Labour, zügig entscheiden, ob sie ihr Land ohne Scheidungsvertrag an die Wand fahren lassen und in die Krise stürzen oder ob sie einen langen Übergang akzeptieren. Letzteres wäre vernünftig. Die Chance wäre nicht gering, dass May am Ende als Gewinnerin übrigbleibt. (Thomas Mayer, 18.10.2018)