"Was Thomas B. dazu sagen wuerde: Letzten Endes kommt alles auf den Wahrheitsgehalt einer Luege an."

13. April 1999, 15.12 Uhr: Unter einem Online-Artikel über die österreichische Berichterstattung zum Kosovo-Krieg erscheint dieser Kommentar – ein fast wörtliches Zitat des Schriftstellers Thomas Bernhards, eine klare Medienkritik. Es ist das erste STANDARD-Posting und damit einer der weltweit ersten Userkommentare überhaupt, die zu einem redaktionellen Onlineartikel gepostet werden.

Vom ersten Posting zum Zehn-Millionen-Forum.
Collage: Der Standard

Die ersten Ideen

"Schon bei der Gründung von derStandard.at 1995 war uns klar, dass wir das Medium Internet für einen Rückkanal nutzen müssen", sagt Gerlinde Hinterleitner, damals Teil des Online-Gründungsteams, heute Online-Verlagsleiterin und für User-Generated Content beim STANDARD verantwortlich. Mitte der Neunzigerjahre gab es mit der "Blackbox" in Österreich bereits eine erfolgreiche Internetcommunity, die Schüler, Studenten, Künstler und politische Organisationen, aber auch Medienschaffende und NGOs für Onlinediskussionen zusammenbrachte. Diese neue Form einer Diskursplattform wurde zu einer Inspiration für derStandard.at.

Hinterleitner: "Ende 1997 starteten wir das erste Community-Projekt. Wir wollten unsere Leser in die Lage versetzen, selbst aktiv zu werden und unmittelbar am gesellschaftlichen Gespräch teilzunehmen." In der gedruckten Ausgabe gab es seit der Gründung 1988 den "Kommentar der anderen" als Abbildung differenzierender Perspektiven. Das Internet bot die Möglichkeit, diese Meinungsvielfalt noch rascher und auf breiterer Basis darzustellen. Deshalb sollte es auf derStandard.at neben der Berichterstattung auch Platz für ein Forum geben. Zunächst sollten hier täglich nur einige von der Redaktion speziell ausgewählte Themen zur Debatte anregen. Mit einer Internetfirma ging es an die Umsetzung, eine kommerzielle Forensoftware sollte eingebunden werden.

Österreichs Diskursmedium

"Wir haben täglich 100 bis 120 Artikel. Sollten wir das Forum nicht einfach unter jeden Artikel hängen?", warf in einer der Besprechungen Alexander Mitteräcker ein, heute alleiniger Vorstand des STANDARD und seit 1998 Teil des Projektteams. "Dann gibt es nicht nur drei oder vier ausgewählte Diskussionen jeden Tag, sondern die User können sich selbst aussuchen, welches Thema sie intensiver diskutieren wollen. Schließlich kann jeder unserer Artikel ein potenzieller Auftakt für eine Diskussion sein."

Die Idee war bestechend – auch, weil sie völlig neu und revolutionär war. Für den Zugang, über journalistische Inhalte den öffentlichen Diskurs zu fördern, gab es zum damaligen Zeitpunkt kein Vorbild. Social-Media-Plattfomen wie Facebook, Twitter und Instagram, auf denen heute selbstverständlich alles kommentiert wird, waren noch lange nicht gegründet. Selbst das österreichische Community-Urgestein uboot.com ging erst im Jahr 2000 online.

Das Community-Projekt hatte mit der Idee "Diskussion unter jedem Artikel" ein neues Ziel bekommen, doch technisch musste dafür erst eine Lösung gesucht werden: Die Einbindung der Forensoftware unter jedem Artikel erwies sich als nicht umsetzbar.

Da am Markt vorhandene Forenprogramme dem Zweck nicht gerecht wurden, wurde das STANDARD-Forum von verlagsinternen IT-Spezialisten in nur wenigen Wochen auf eigene Faust programmiert. Die Vorgabe: Jedes Posting muss auch von anderen Userinnen und Usern beantwortet werden können – denn nur auf diese Weise kann ein wirkliches Gespräch entstehen. Die entsprechenden Gesprächsverläufe sollten gut strukturiert unterhalb des jeweiligen Artikels dargestellt werden, damit auch andere Personen in die Diskussion einsteigen können. Dazu musste die Moderation der Debatten bedacht werden: Neue Beiträge landeten in dieser Urversion des heutigen Forums noch in einer E-Mail-Box und konnten von dort aus freigeschaltet oder gelöscht werden.

Spielerisches Ausprobieren

Am 13. April 1999 war es schließlich so weit: Das Forum unter jedem Artikel ging online, kurz darauf erschien das erste Posting. "Zu Beginn war das natürlich ein spielerisches Ausprobieren", sagt Mitteräcker. Schon damals aber war klar: Wer die interaktiven Möglichkeiten des Mediums nutzt, fördert damit die Leserbindung. Deshalb wurden Aufbau und Pflege der Community bereits zur Jahrtausendwende für der-Standard.at eine Selbstverständlichkeit .

Das Forum unter den Artikeln war der erste Meilenstein in der Verbindung von redaktionellem Inhalt und Gespräch der User. Der Liveticker war die logische Fortsetzung – obwohl auch dafür jedes Vorbild fehlte.

Redakteure aus dem Sportressort begannen damals, Artikel laufend zu ergänzen, um den aktuellen Zwischenstand von Formel-1-Rennen sekundenschnell an die Leser zu liefern. Besonders angetan waren sie von den kreativen Kommentaren der ORF-Moderatoren, allen voran Heinz Prüller – auch diese gaben sie wortgetreu wieder. Und durch das neue Forum konnten jetzt auch die User unterhalb der Artikel ihrer Emotion freien Lauf lassen.

Projekt Liveticker

Als schwierig gestaltete sich allerdings, einen Zusammenhang zwischen den redaktionellen Ergänzungen und den jeweiligen Reaktionen der Community herzustellen. Schon 1999 ging deshalb eine erste selbstentwickelte Version des Livetickers online, bei der User redaktionelle Updates einzeln kommentieren konnten.

"So kann man das unmöglich lassen. Wenn man die Userkommentare einschaltet, weiß man nicht mehr, wo oben und unten ist, so konfus sieht alles aus. Das Layout ist an Langeweile kaum noch zu überbieten, da schlafen uns die User vor der Kiste ein." So lautete das Feedback von Philip Bauer, heute Ressortleiter Sport, zu einer Weiterentwicklung. Zum Glück kamen bis zur Fußball-WM 2002 noch einige Verbesserungen hinzu, und seither ist der STANDARD-Liveticker unverzichtbar geworden.

"Das Forum und der Liveticker sind Teil unserer DNA", sagt Hinterleitner. "Die redaktionelle Berichterstattung mit den Menschen, für die sie gemacht wird, zu verweben ist es, was unsere Community ausmacht." Der Wert der Community besteht für sie in der Lebendigkeit, die die Nachrichten durch die Userkommentare erhalten. Eine Diskursplattform zu sein und der Meinungsvielfalt einen zentralen Platz einzuräumen – das sei ein gesellschaftlicher Auftrag an die Medien.

Wertvolles Engagement

Das User-Engagement – dass Leser also selbst aktiv werden können – ist auch für Mitteräcker ein selbstverständliches und zentrales Element der Onlinestrategie des STANDARD: "Wir wissen, dass es sehr viele Menschen gibt, die deshalb so viel Zeit auf derStandard.at verbringen, weil es hier eine breite und lebhafte Community gibt." Nicht jeder wolle oder müsse sich selbst zu Wort melden, aber die Vielzahl und inhaltliche Bandbreite der Wortmeldungen sei von großem Interesse für die Öffentlichkeit.

Heute ist die STANDARD-Community mit jährlich etwa 10,5 Millionen Postings in Foren und Livetickern – oder bis zu 40.000 am Tag – einzigartig im deutschsprachigen Raum. Auch weltweit gibt es kaum etwas Vergleichbares.

Leser schätzen vor allem den Humor, aber auch das Wissen, das Poster in verschiedenen Sparten zeigen: User erstellen relevante Inhalte für User. Spezialisierte Communitys entstehen deshalb aktuell in den sogenannten Foren+, in denen User gemeinsam aktiv werden: Sie schreiben zusammen Kurzgeschichten, verfolgen aber auch das Tennisgeschehen von Dominic Thiem bis hinab zu kleinsten Turnieren und diskutieren Mobilitätsthemen mit Forschern der TU Wien.

Mitteräcker sieht darin ein Versprechen für die Zukunft: "Unter unseren Usern gibt es für jedes Thema Experten. Unsere Rolle ist es, dafür einen Rahmen zu schaffen und gleichermaßen Nachrichtenmedium und Diskursplattform zu sein." (Christian Burger, 19.10.2018)