Wozu also überhaupt noch Debatten um das Für und Wider der Digitalisierung führen? Aufhalten, so alle unisono, kann man sie sowieso nicht.

Foto: Klaus Platon Grütsch
"You are terrified of your own children, since they are natives in a world where you will always be immigrants."

Dieser Satz aus der 1996 veröffentlichten Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace von John Perry Barlow beschreibt das diffuse Unbehagen älterer Generationen gegenüber den "digitalen Eingeborenen".

Sie drang in das gesellschaftliche Selbstverständnis mit der Gewalt eines Naturgesetzes, das notwendigerweise alle Lebensbereiche verändern musste. Wer wagte es schon, gegen den Fortschritt aufzubegehren? Mit der Digitalisierung erreichte die Menschheit endlich ein Ideal, das alle anderen undenkbar machte, aber ausgerechnet von jenen geschaffen wurde, die man als in sozialen Belangen unbeholfene Einzelgänger sah: den Nerds oder Computerfreaks, die sich stundenlang vor ihren Bildschirmen verbarrikadierten und binäre Codes sozialen Begegnungen vorzogen.

Programmierte Sehnsüchte

Zwanzig Jahre später sind es also sie, die nicht nur unsere Welt, sondern auch unsere Sehnsüchte programmieren. Die digitalen Versprechungen, der kontingenten, individuellen Realität durch entgrenzte, kollektive Digitalisierung zu entkommen, sind schnell entzaubert worden. Gleichzeitig hat sich die Frage nach der digitalen Theodizee durch den selbstverständlichen Zugriff auf die Google-Allwissenheit, die Facebook- Allgegenwärtigkeit und die Amazon-Allmacht erledigt. Heute sind alle Wunder online oder nirgendwo zu haben.

Wozu also überhaupt noch Debatten um das Für und Wider der Digitalisierung führen? Aufhalten, so alle unisono, kann man sie sowieso nicht. Wieso also über moralischen Dilemmata brüten, wenn es stattdessen politische Korrektheit gibt? Warum noch um Humanität ringen, wenn die Verheißungen des technologischen Posthumanismus unsere wildesten, religiösen Eschatologien übertreffen? Wieso sich auf die mannigfaltigen Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen einlassen, wenn wir uns in die Echokammern unserer sozialen Netzwerke zurückziehen können? Dort lassen sich immerhin noch jene affektierten Scheindebatten führen, die unsere Illusion nähren, wir könnten mit einem kurzen Klick die analogen gesellschaftlichen Verhältnisse verändern.

Digitale Streitkultur?

Die Größe eines "Fortschritts" bemisst sich nach Nietzsche eben auch "nach der Masse dessen, was ihm alles geopfert werden musste". Die Digitalisierung kann zwar vieles, aber bei weitem nicht alles Analoge in digitale Signale umwandeln. So versank mit der Entdeckung des Sich-empören-Könnens die Masse an Zwischentönen demokratischer Streitkultur in den Untiefen einer Technologie, die zumindest den "digital natives" seit Kindesbeinen vertraut schien, aber es ihnen dennoch unmöglich machte, den eigenen Standpunkt vertreten zu können, ohne dem Anderen einen konträren zu verzeihen.

"Verschwunden sei die Gewissheit", so Zygmunt Bauman, "dass 'wir uns wiedersehen werden‘, dass es mehr als eine nur vorübergehende Bedeutung hat, wie wir miteinander umgehen, weil die Folgen unserer Handlungen uns noch lange begleiten werden – aufbewahrt im Denken und Handeln von Augenzeugen, die immer um uns sind."

Enthemmte User

Zur Zeit der ersten Nerds prägte Philosoph Günther Anders den Begriff der "prometheischen Scham". Die Menschen fühlten sich laut Anders nicht mehr als "Herren ihrer eigenen Schöpfungen", sondern ihren selbst geschaffenen Machwerken unter legen. Trotz der vielfach potenzierten technologischen Kränkungen der vergangenen Jahrzehnte hat sich der einstige Minderwertigkeitskomplex umgekehrt. Im Angesicht von Bits und Bytes scheint der Einzelne nicht nur die Scham vor der digitalen Weltbemächtigung, sondern auch vor allen anderen verloren zu haben, die wie er – auf einen Schlag – von empathiefähigen Gegenübern zu enthemmten Usern mutiert waren.

Was aber lässt sich der grassierenden digitalen Schamlosigkeit entgegensetzen außer dem Willen, die Möglichkeit echter Debatten vor ihr zu verteidigen. Also jene Debatten nach Schopenhauer, in denen man nicht mit dem "Ersten dem Besten disputieren muss; sondern allein mit solchen, von denen man weiß, dass sie Verstand genug haben, nicht gar zu Absurdes vorzubringen und dadurch beschämt werden zu müssen". Das "Haupthindernis der Fortschritte des Menschengeschlechts" ist heute wie gestern, dass die Leute nicht auf die hören, "welche am gescheitesten, sondern auf die, welche am lautesten reden".

Was im Übrigen zeigt, dass Weisheit unverändert ihre Gültigkeit behält. (Lisz Hirn, 19.10.2018)