Der Lärm wird mit Einbruch der Dunkelheit immer durchdringender, ein dissonantes Konzert aus Vogelstimmen, Insektenzirpen, dem Hämmern, Schreien und Ächzen der Natur. Nachts ist der Urwald ein unheimlicher Platz, aber für den Mann, den die Kamera an einem hohen Drahtzaun zu verfolgen beginnt, ist es ein Raum der Freiheit. Sein Weg führt an Wachmännern und Scheinwerferbatterien vorbei. Bald läuft der Mann durch den nachtschwarzen Dschungel. Eine Raserei durchs Dickicht, nun begleitet von einem Stöhnen, das langsam zu einem drohenden, berauschten Brüllen wird. Erst am Meer wird es enden. Ein Gefangener ist entflohen.

Foto: Viennale

Der Dschungel gehört zum Naturschutzgebiet der Christmas Islands, einem 135 Quadratkilometer großen Außenposten Australiens im Pazifik, fast 1000 Kilometer vom Kontinent entfernt. Island of the Hungry Ghosts nennen die Einwanderer die Insel. Gabrielle Brady hat hier einen Film gedreht, der in kein klassisches Genre einzuordnen ist.

Die Flucht durch den Urwald ist die erste Szene – danach spricht vieles dafür, dass die Erzählung über die Traumatherapeutin Poh Lin Lee, ihre Arbeit und ihre kleine Familie eine Fiktion ist: die Intimität der Therapiesitzungen, die suggestive Tonspur, die gemessenen Kamerafahrten, die Special Effects der Wirklichkeit, die so unglaublich sind, dass man sie zuerst nicht für ein Werk der Natur halten möchte.

Trailer zu "Island of the Hungry Ghosts".
Laura Giacomin

"Hybrid Documentary" nennt Gabrielle Brady die Filmform, in der sie die Grenzen dieses trügerischen Paradieses erkundet. Der Zaun, den der Gefangene zu Beginn überwunden hat, gehört zu einem Detention Center. Auf den Weihnachtsinseln hat Australien als Teil seiner rigorosen Abschreckungspolitik gegen Bootsflüchtlinge jahrzehntelang Asylsuchende fast rechtlos interniert, inzwischen werden vor allem exterritoriale Lager dafür genutzt.

Die Traumatherapeutin, von deren Arbeit mit Geflüchteten der Film so berührend erzählt, ist eine langjährige Freundin der Regisseurin. Bradys Film ist fast zur Gänze aus dokumentarischem Material montiert: Lees Klienten sind Geflüchtete aus Pakistan, Syrien oder Afghanistan. Zu den Traumata der Verfolgung in ihrer Heimat sind Flucht und Gefangenschaft in den Detention-Centern gekommen. Parallel zu den therapeutischen Sitzungen betrachtet Brady den Alltag der Insel, so wie er Pho Lin begegnet: die Totenrituale der chinesischen Einwanderer und die millionenfache Krabbenwanderung, die von der Regierung mit so viel mehr Humanität begleitet wird als die Menschen in den Lagern – eine vieldeutige Metapher von Flucht und Migration.

Poh Lee wird selbst zunehmend frustriert über die Umstände ihrer Arbeit. Irgendwann kann sie nicht mehr mit ansehen, wie ihre Klienten ihre Lebenskraft verlieren. Einer von ihnen sagt: "Ich habe das Gefühl, das ist eine Art Hölle hier." (Robert Weixlbaumer, 25.10.2018)