Die Anspannung ist der jungen Frau beim Betreten der Telefonkabine anzusehen. Als die Verbindung zustande kommt und sich ein Mann meldet, der offenbar ihr heimlicher Liebhaber in Italien ist, lacht sie gelöst auf. Während des Gesprächs lassen sich von ihrem Gesicht in rascher Folge Freude, Skepsis, Zuneigung, Irritation ablesen. Plötzlich verstummt die Stimme des Mannes, nur noch Rauschen ist zu hören. Das "Hallo" der Frau verklingt als Frage.

Ein Callshop als Ort der Nähe und Distanz: Nahoko Fort-Nishigami in "Ciao Chérie".
Foto: NK Projects

Die Telefongespräche in einem Wiener Callshop verlaufen in Ciao Chérie nicht immer so wie von den Anrufern erhofft. Sie verraten aber viel vom Ringen um Nähe und Distanz, von unterdrückten Sehnsüchten und alltäglichen Herausforderungen. Im fein gewobenen Kammerspiel der bosnisch-österreichischen Filmemacherin Nina Kusturica ergeben sie ein intimes Kompendium vom Leben in einer oft noch fremden Großstadt.

Manche Menschen, die sich in Ciao Chérie in die Telefonkabinen zurückziehen, haben etwas zu verbergen – wie Mimi ihre italienische Affäre. Auch Reza, der afghanische Teenager, der sich telefonisch bei seiner Familie melden muss, führt seine österreichische Freundin in die Irre. Andere wie die schüchterne Ange aus dem afrikanischen Togo versuchen das Heimweh zu bekämpfen: "Es ist nicht einfach, im Ausland zu leben", sagt sie und spricht damit für die meisten Callshop-Kunden. Für Amari aus Nigeria, der hofft, im Gespräch mit der Schwester seine Erinnerungen wiederzufinden. Und auch für Larisa, die das Telefongeschäft führt, seit sich ihr Mann aus dem Staub gemacht hat.

Trailer zu "Ciao Chérie".
Nina Kusturica Projects

Kusturica hat ihre dritte abendfüllende Regiearbeit fast zur Gänze im Inneren eines Callshops gedreht, wie sie trotz Mobiltelefonie nach wie vor in vielen Städten zu finden sind. Eine Beschränkung, die sich in erzählerischer wie in visueller Hinsicht als Gewinn erweist. Mit ausgeklügelten Einstellungen der spiegelnden Glasoberflächen im Geschäft vermittelt die Kameraarbeit von Michael Schindegger Raumgefühl. Nahaufnahmen erlauben die Konzentration auf die Nuancen in den Gesichtern der unterschiedslos formidablen Laien- und Profischauspieler, während Außenansichten das Geschäft in einem spezifischen Wiener Umfeld verankern und dem Film einen Tag-Nacht-Rhythmus verleihen.

Nicht ins Bild kommen jene Menschen, die angerufen werden. Umso mehr Gewicht kommt ihren Stimmen zu, aus deren Timbre wir herauszuhören versuchen, was keine Gesten verraten. In besonders schönen Sequenzen setzt Kusturica einzelne Callshop-Besucher schweigend in Szene, während wir sie im Off traditionelle Lieder ihrer Herkunftsländer singen hören. Ein vielstimmiges Kaleidoskop wird so vollends zum Filmgedicht. (Karl Gedlicka, 20.10.2018)