Hoheitsvoll: Andrea Jonasson (li.) als Claire Zachanassian.

Foto: Herwig Prammer

Wien – Das Kaff Güllen hat vielleicht noch nie so hohen, aber bestimmt noch nie so absonderlichen Besuch erhalten wie jetzt im Wiener Josefstadt-Theater. Claire Zachanassian (Andrea Jonasson), die womöglich reichste Frau der Welt, beehrt ihren (sehr forstreichen) Geburtsort. In diesem wurde sie einst geschwängert, entehrt und, durch die konzertierte Meineidigkeit der beteiligten Männer, zur Hure gemacht. Woraufhin sie aufbrach und in der Fremde unverhofft ihr kommerzielles Glück fand.

Den geforderten Preis entrichtete sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr menschliches Erscheinungsbild tauschte sie gegen die faszinierende Fassade der posthumanen Prothesengöttin ein. Und gegen den Auftritt der Jonasson ist kein Kraut gewachsen: Schwarz glitzernde Kostüme verhängen die künstliche Schulter der Figur und verbergen obendrein das fehlende Herz (beide bleiben unsichtbar). Ihr zur Maske erstarrtes Gesicht markiert den Triumph des Willens über die Schwäche von Fleisch und Binnenmarkt. Güllen hat nämlich gründlich abgewirtschaftet.

Geld gegen Leben

Jetzt kehrt Claire, geborene Klara Wäscher, in der Rolle der wohltätigen Großinvestorin wieder. Leider gibt es von ihr Bares, eine runde Milliarde, nur gegen Erlag eines Menschenlebens. Vom beängstigenden Charme des Wiedergängertums erzählt Friedrich Dürrenmatts unverwüstliche Parabel Der Besuch der alten Dame nun schon wieder, nur rund ein halbes Jahr nach einer (kreuzbraven) Inszenierung des Stückes an der Wiener Burg.

Mit unverminderter Dringlichkeit halten die Theater an der These der "tragischen Komödie" (Untertitel) fest: Jedes noch so demokratisch verfasste Gemeinwesen bleibt auf die Schlachtung eines Sündenbocks angewiesen. Der Kapitalismus produziert den Wohlstand aller auf Kosten eines Einzelnen. Und Ill (Michael König), einst der Schänder Claires, gibt den in Unehren ergrauten Löwen, einen Kleinkrämer mit dem harschen Auftreten eines Shakespeare-Lords.

Die Kleinstädter spekulieren reichlich unverschämt auf den Zaster der Zachanassian. Und weil Regisseur Stephan Müller (passenderweise ein Schweizer) auch wirklich keinen Zweifel daran aufkommen lässt, warum es Ill an den Kragen gehen soll, lässt er die Güllener Honoratioren am Opferaltar tagen. In ihrer Vielfalt zehren alle diese Figuren von ihrer Einfalt. Charakter und Funktion fließen ineinander: beim habgierigen Bürgermeister (Siegfried Walther) ebenso wie beim geschmerzten Lehrer (André Pohl).

Man meint, den Mief der späten 1950er mit Händen greifen zu können. Um nur ja nicht in den Verdacht der Rückständigkeit zu geraten, hat Müller rasch noch etwas Medienkritik in sein biederes Dürrenmatt-Paket gepackt. CNN-Kameras sorgen für das Flair ewiger Gegenwart. Eine Batterie von Screens (Bühne: Sophie Lux) schließt Güllen in das Spektakel digitaler Bildproduktion ein. Wobei Ill schon fast als obszöner Genießer in die Linse blinzelt.

Claire aber stiehlt allen anderen die Show. Mit jedem Schritt ihres künstlichen Beins zerrt sie ihre Umwelt tiefer in den Schmutz der Niedertracht hinein. Über dem Handschuh glitzert das kostbarste Geschmeide der Welt. Ihr edles Antlitz wahrt auch gegenüber der Kamera stets Hoheit und Abstand. Über die Rückwand aber fließen allerhand hübsche Videos. Die Segnungen der Digitalität sollen jenen Trost spenden, denn diese unfassbar langweilige Inszenierung aus eigener Kraft kaum zu bieten vermag.

Irgendwann fügt sich Ill in das Unvermeidliche seines Schicksals. Im Wald von Güllen zwitschert die mysteriöse Twin Peaks-Musik, und irgendwie hofft man – natürlich vergebens – auf den Auftritt eines Zwergs, der rückwärts sprechen kann. So wird Der Besuch der alten Dame bloß der Reihe nach zu Ende erzählt. Politikerreden werden zum Besten gegeben, als ewige Warnung an laue Demokraten. Bis Alfred Ill tot ist und die Zachanassian, diese Schicksalsgöttin als Parze, wieder weg. Die Güllener werden das Konjunkturpaket in Form eines Geldkoffers gut gebrauchen können. Aber es zeigt ja auch der Eifer der Stadttheater an, dass Dürrenmatts Alte Dame offenbar einen unfassbar hohen Gebrauchswert besitzt. (Ronald Pohl, 19.10.2018)