KI braucht auch Vorurteile.

Cartoon: Felix Grütsch

Künftig wird KI noch mehr Erkenntnisse aus Neurobiologie, kognitiven Wissenschaften, Physik und Philosophie übernehmen.

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Kaum ein anderes Gebiet der Technik führt zu so viel Verwirrung wie die künstliche Intelligenz (KI). Herstellerfirmen mit übergroßen Marketingbudgets versprechen, dass ihre jeweilige kognitive Technologie Krebs heilt, Konzerne mit Vorhersagen zur Entwicklung ihrer Märkte unterstützt und mit automatisierten Prozessen Millionen einspart. Kassandren prophezeien globale Arbeitslosigkeit, wenn Arbeitsplätze von gesichtslosen Robotern übernommen werden. Venture-Kapitalisten fragen sich, wie man investieren kann, wenn es weltweit nur etwa 10.000 promovierte Datenwissenschafter gibt.

Die Praxis zeigt, dass die Unternehmen viel Geld für wenig durchdachte Experimente mit KI-Applikationen verschwenden – mal für Start-ups mit halbfertigen Bots, mal für IBM Watson.

Gleichzeitig finden sich unter den Top Ten der am höchsten bewerteten Unternehmen der Welt fünf Firmen, die seit 2015 eine KI-zentrische Strategie haben. Apple, Amazon, Alphabet, Microsoft und Facebook entwickeln ihre eigenen KI-Halbleiter, stellen die besten KI-Professoren ein und schaffen ihre eigenen Cloudtechnologien. Sie investieren in die Hauptfelder von KI, die bereits heute Tausende von Produkten und Services ermöglichen – von Computer-Vision bis zu Natural Language Recognition & Processing. Sie kaufen mehrere Start-ups pro Jahr, die zum Beispiel durch maschinelles Lernen (ML) Emotionen in den Videos auswerten, die Cloud-Sicherheit optimieren, oder Anomalien in den Datenströmen markieren.

Alle diese Unternehmen über einen Kamm zu scheren ist nicht sinnvoll. Apple ist sehr auf die Privatsphäre seiner Nutzer fokussiert und verarbeitet deren Daten direkt auf den Geräten, ohne sie in die Cloud zu schicken. Der Wettbewerbsvorteil von Privacy by Design war nicht einfach zu erreichen. Das Unternehmen lernte, ML im Umfeld kleiner Datensets anzuwenden. Andererseits wird Facebook seit den letzten US-Präsidentschaftswahlen von Skandalen erschüttert.

Ein Machtfaktor

Da KI Macht bedeutet, drängen Politiker in vielen Ländern darauf, nationale KI-Strategien zu entwickeln. China investiert bis zum Jahr 2030 insgesamt 150 Mrd. Dollar in KI. Die 2017 vorgelegte Strategie "Next Generation" ist fast ein Spiegelbild der Strategie, die das Weiße Haus noch unter Barack Obama 2016 entworfen hat.

Kann man KI und ML einfach erklären? Vereinfacht dargestellt ist ML eine Familie von Ansätzen innerhalb der KI mit dem Ziel, einen Computer durch Wissenserwerb nützliche Dinge tun zu lassen. Das Lernen geschieht durch die Analyse der Daten, strukturierter Daten, wie Finanzdaten aus SAP-Systemen, oder – viel schwieriger – unstrukturierter Daten, wie etwa aus den Texten von rechtlichen Dokumenten, Aufzeichnungen von Kundenbeschwerden.

Algorithmen helfen dabei, in den Daten bestimmte Muster und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. ML ist eine Teildisziplin der KI, die selbst aus weiteren Denkschulen und Ansätzen besteht. Y Combinator, eine der besten Start-up-Schmieden der Welt, spricht von 21 unterschiedlichen KI-Kulturen.

Die Entwicklung von KI-Anwendungen ist nicht ohne Herausforderungen. Im Unternehmen x.ai, das für eine virtuelle Assistentin Amy berühmt ist, sind 160 Mitarbeiter angestellt. 90 davon kümmern sich um die Säuberung von Daten. Das hat damit zu tun, dass menschliche Sprache komplex ist. Ein Satz kann ironisch gemeint sein. Die falsche Betonung eines Wortes kann eine Maschine verwirren.

IT-Infrastruktur

Außerdem bedarf KI einer flexiblen und agilen IT-Infrastruktur. Damit tun sich viele Konzerne schwer. KI-Technologien bringen nicht nur Vorteile. Yann LeCun, der KI-Science-Officer von Facebook, glaubt fest daran, dass ML Vorurteile braucht, um einer Aufgabe nachzugehen. Fehlt den programmierenden Teams die Vielfalt, werden menschliche Vorurteile mit der brutalen Macht der Mathematik skaliert. Bei Facebook hat eine Gruppe im Jahr 2017 einem Rechner beigebracht, Berufe auf Basis von Gesichtern vorherzusagen. Bei Barack Obama war die Kategorie "Basketballspieler", weil der Rechner sich nicht vorstellen konnte, dass eine dunkelhäutige, großgewachsene Person auch US-Präsident sein könnte. Algorithmen können Ungleichheit und Benachteiligung schaffen. Ist man in der "falschen" Daten-Kohorte, bekommt man vielleicht keinen Kredit oder wird an einer Universität abgelehnt. Dagegen arbeiten Stiftungen und Institutionen wie AI4ALL, wo Mädchen ab der achten Klasse DL in den Schulen studieren können. Einfach zum Vergleich – in China wurde ML obligatorischer Teil des Lernprogramms ab der sechsten Schulklasse.

Große Probleme erwarte ich dadurch, dass kriminelle Gruppen mithilfe von ML und DL Cyberattacken skalieren, Schutzsysteme umgehen, Datenforensiker täuschen und sogar Realdaten angreifen. So können bereits heute Sensoren in Autos statt eines Steins ein Tier sehen, sollten sie manipuliert werden. Nicht alle Unternehmen haben das nötige Wissen, um sich auf solche Attacken vorzubereiten und Präventionsmaßnahmen umzusetzen.

Es ist aber auch wichtig anzumerken, dass heutige KI-Anwendungen nicht wirklich intelligent sind. Menschen treffen Entscheidungen, wie diese Systeme gebaut werden. Auch die Sorge, dass wir nicht wissen, wie eine Maschine ihre Entscheidung trifft, ist verfrüht. KI entwickelt sich von Monat zu Monat weiter. So färbt bereits der Chip-Hersteller Nvidia in seinen Modellen für selbstfahrende Autos Algorithmen und Teile von Daten ein, die am meisten zu einer Erkenntnis beigetragen haben. Vielleicht liefert Swarm-Mathematik neue Ansätze, um KI besser zu verstehen.

Viele Disziplinen

Künftig wird KI noch mehr Erkenntnisse aus Neurobiologie, kognitiven Wissenschaften, Physik und Philosophie übernehmen. Komplexe Fragen lassen sich nicht in die Schublade einer einzelnen Disziplin sperren. So wie Licht Teilchen und Welle ist, gehen einige Wissenschafter heute von einer Dualität von Gehirn und Intelligenz aus, die an das Bewusstsein gekoppelt ist.

Da KI-Technologien viele Aspekte unseres Lebens und unserer Wirtschaft berühren werden, sollte unsere Gesellschaft an einem besseren Verständnis für Technik an den Schulen, in der Öffentlichkeit, in Unternehmen und Behörden arbeiten. Gleichzeitig sollten Internetgiganten Ethik-Gremien ins Leben rufen, an denen über menschenzentrisches Design, einen Abgleich von Zielen zwischen Menschen und Maschinen und das Vorbeugen von Risiken gesprochen wird. Die Menschheit kann sehr sinnvoll von KI profitieren. Wir müssen uns jedoch aktiv beteiligen und verstehen – ohne Hype und Hysterie -, womit wir es zu tun haben. Die besten Technologien werden durch viel Zuhören und den Austausch zwischen vielen Disziplinen ermöglicht. (Anastassia Lauterbach, 20.10.2018)