Wo geht es hier treppauf, treppab zum nächsten Auftritt, bitte? Von li. nach re. im Münchner Residenztheater: Katharina Pichler, Nora Buzalka und Genija Rykova.

Foto: Matthias Horn

Wie jeder halbwegs fromme Dramaturg weiß, besitzt ein Theaterregisseur frappierende Ähnlichkeit mit Gott dem Herrn. Er ist beinahe so gütig wie der Allmächtige, verfügt im Gegensatz zu diesem aber auch über beträchtlichen sexuellen Appetit. Wie dieser erschafft er aus dem Nichts eine Vielzahl von Gestalten, von denen er kaum weiß, ob sie komisch oder tragisch sind.

Seit es die Farce Der nackte Wahnsinn des Briten Michael Frayn gibt, weiß man dafür über die ersten Worte des Schöpfers genau Bescheid. Sie heißen: "Du lässt die Sardinen stehen!" Und Gott ist gar nicht er selbst, sondern der wundervoll nüchterne Schauspieler Norman Hacker, der hinter seinen Brillen große Schöpferaugen macht.

Hacker steht hinter der Rangbrüstung des Münchner Residenztheaters. Sein allmächtiger Blick ist vor Entsetzen starr. Er spielt in Frayns unfassbar komischem Tür-auf-Tür-zu-Drama den Regisseur "Martin K.". Er agiert hier im "Resi" als Stellvertreter des leibhaftigen Martin Kusej. Der selbst ist nicht Gott der Allmächtige, wird aber ab der kommenden Spielzeit das Wiener Burgtheater leiten. Sehr viel göttlichere Würden lassen sich im irdischen Theaterbetrieb kaum erlangen.

In Der nackte Wahnsinn wird der Zuschauer Zeuge, wie eine unfassbar unbegabte Tourneetruppe eine Farce unter dem Titel Nackte Tatsachen einstudiert. "Sophie" (Sophie von Kessel) ist die Diva unter diesen Viertel- bis Halbbegabten. Ihren Busen hat sie mit Watte zum mächtigen Erker ausgebaut. Ihre Funktion besteht darin, in der 1980er-Jahre-Kulisse eines scheußlichen Lofts die allwissende Haushälterin zu geben: eine Proserpina der schlagenden Türen.

Die komischsten Gestalten finden sich hier ein, um miteinander Schäferstündchen zu verbringen. Die Koordination der Auf- und Abtritte stünde eigentlich in Gottes Hand. Gleich morgen ist Premiere, und anschließend geht die brachiale Produktion nach Schweinfurt oder Kaufbeuren in die bayerische Provinz. Der Regisseur weiß: "Änderungen sind jetzt nicht mehr drin!"

Gemeinsam in der Falle

Aber "Martin K." hat andere Sorgen, als seine Lieben in ihre unbeträchtlichen Darstellungskünste einzuweisen. Er ist der blond ondulierten Kontaktlinsen-Schönheit (Genija Rykova) sexuell ebenso gewogen wie dem assistierenden, ebenfalls hellblonden Mädchen für alles (Nora Buzalka). Er sitzt mit seinen Versagern, ihren Hysterien und Eifersüchteleien gemeinsam in der Theaterfalle. Er sieht, wie alle treppauf und treppab stürzen, wie sich alle redlich bemühen und seiner Schöpfung – der Inszenierung in der Inszenierung – doch nichts als Schande bereiten.

Der zweite Akt rückt die kohlrabenschwarze Hinterbühne ins Bild (Ausstattung: Annette Murschetz). Die Produktion läuft jetzt seit geraumer Zeit in den Stadtsälen Niederbayerns. Gottvater als "Martin K." hat sich längst aus dem Staub gemacht, nach Wien, wo er etwas Neues inszeniert. Seine Geschöpfe müssen sich jetzt mit den Folgen seines unverantwortlichen Tuns auseinandersetzen. Er selbst huscht nur noch als sein eigenes Gespenst durchs Geschehen, bereit, ein altes Techtelmechtel aufzufrischen.

Seine Schauspieler schmeißen leider immer öfter die falschen Türen. Vor allem aber gehen die "Falschen" miteinander privat ins Bett. Die Whiskeyflasche zirkuliert, die Darsteller (Till Firit) unternehmen Anschläge auf ihre Nebenbuhler, und das Blondchen vom Dienst trägt vom Regisseur bereits ein Kind unter dem Herzen. (Frayn hatte anno 1982 von #MeToo natürlich noch nicht die geringste Ahnung.)

Der nackte Wahnsinn ist der köstlichste aller Gottesbeweise. Nur wird seinetwegen die Welt nicht in sechs Tagen erschaffen, sondern in drei Theaterakten niedergeschmettert. Martin Kusej demonstriert eindrucksvoll, dass er nicht nur ein finsterer, strafender Gott sein kann. Nur wird man sich von ihm keine Unbedarftheit erwarten dürfen. Er ist als himmlischer Fronvogt kein maßlos strenger Herr, sondern bleibt seinen Geschöpfen bis zum Schluss ein liebevoller, skeptischer Begleiter.

Schöpfung in Scherben

Frayns häufig gespielte Schlafzimmerfarce hat man bestimmt schon schneller gesehen. Als virtuosen Binnenwitz, als mutwilliges Durchdrehen des Unglücksrads. Hier, unter Kusejs (und "Kusejs") ungerührtem Blick zerbricht die Schöpfung allmählich, aber völlig folgerichtig in hunderttausend Scherben. Der Wurm steckt von allem Anfang an im Komödienmechanismus drin. Und es bedarf womöglich höherer Instanzen, als Regisseure sind, um den Menschen mit der Erbärmlichkeit seiner komischen Rollenspiele auszusöhnen.

Das zentrale Wunder dieser tollen Aufführung ist, wie in der Bibel, eines mit Fischen. "Sophie" sorgt für eine wundersame Sardinenvermehrung. Kaum ist ein Teller mit ihnen verschwunden, trägt sie einen neuen auf.

Irgendwann sind die glitschigen Fischlein im Gestrüpp des Teppichs verschwunden. Das Chaos hat seinen Gipfelpunkt erreicht. Und es wird Zeit, die Treppe hinunterzustürzen (Firit!) und sich beinahe den Hals zu brechen. Von den verrutschenden Kontaktlinsen "Genijas" zu schweigen.

Der herzliche Jubel der Münchner galt auch dem Abschiednehmen. Martin Kusej – der echte – zieht, wie gesagt, weiter nach Wien. Besonders fromme Theaterkundler meinen, das Wort "Burgtheater" sei ein Synonym für "Himmelreich auf Erden".

Kusej lässt ab dem Sommer 2019 aber auch ein Paradies hinter sich zurück. In einer Münchner Lokalzeitung verströmte er vor der Premiere des Nackten Wahnsinns sicherheitshalber noch etwas weißblaue Nostalgie. Nicht den "leisesten Hauch" einer Einflussnahme habe er in München jemals verspürt. Auch sonst habe er, etwa mit Blick auf den Umbau des Burgtheater-Ensembles, so weit alles richtig gemacht: "Wenn von über 65 Schauspielern 20 der Vertrag nicht verlängert wird, dann sind das doch keine 40 Prozent." (Ronald Pohl, 22.10.2018)