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Unversöhnlich gegen Rechtsnationalismus und von einer unhelvetischen Eloquenz: der Schriftsteller Adolf Muschg.

Foto: Arne Dedert / dpa / picturedesk.com

Ende der 1990er-Jahre hatte die Schweiz wieder einmal Ärger mit ihren Banken. Konkret ging es um die euphemistisch "nachrichtenlose Vermögen" genannten Geldwerte, die jüdische Bürger während der Naziherrschaft in die Schweiz hatten retten können. Unzählige von ihnen wurden ermordet, nach Erben suchten die Schweizer Banker nicht. Bis Nachkommen von Opfern Sammelklagen einbrachten. Der damalige Bundespräsident lehnte eine Entschädigung zunächst ab, Auschwitz liege schließlich nicht in der Schweiz.

Die Intellektuellen antworteten damals mit durchdringendem Schweigen, nicht so Adolf Muschg. In der Zeit und im Tagesanzeiger warf er der Schweiz Heuchelei, die Leugnung historischer Schuld sowie Selbstgerechtigkeit vor. Für die rechtsnationale Schweizer Volkspartei ist er seither ein Nestbeschmutzer. Erboste "Patrioten" schickten ihm damals per Post Fäkalien ins Haus. Was Muschg nicht daran hinderte, sich weiter mit einer unhelvetischen Eloquenz gesellschaftspolitisch zu äußern. Zuletzt sorge der überzeugte Pro-Europäer in einschlägigen Kreisen für Wut, als er die in der Volksabstimmung erfolgreiche SVP-"Masseneinwanderungsinitiaive" (50,3 Ja-Stimmen) zum Schämen fand. Die direkte Demokratie will der 84-jährige Muschg durch derlei nicht infrage stellen, er hält sie aber durch jene gefährdet, die mit Vereinfachungen und dem Schüren von Vorurteilen politisches Kleingeld lukrieren.

Leben nach dem Störfall

Dass Muschg, der Professor für Literatur an der ETH Zürich und Präsident der Akademie der Künste in Berlin war, ein Autor von großer erzählerischer Kraft ist, zeigt auch sein neuer Japan-Roman Heimkehr nach Fukushima (Beck, € 22,70). Die im Romantitel angedeutete Heimkehr ist für die Hauptfigur Paul Neuhaus, einen 62-jährigen deutschen Ex-Stadtplaner, dem eine Erbschaft ein Leben als Autor ermöglicht, auch eine Rückkehr. Im Jahr 2011, just als das Erdbeben, der Tsunami und der Störfall im Atomkraftwerk Fukushima (zu Deutsch: Insel des Glücks) Japan erschütterten, hat er das Land mit seiner Frau besucht, auch um die zunehmenden Beziehungswogen zu glätten. Nun, Jahre später, erreicht ihn ein Brief aus Japan. Die Regierung hat die Wiederbesiedlung gewisser Gebiete um Fukushima freigegeben. Es will aber niemand zurück. Seizo Irie, Bürgermeister einer betroffenen Gemeinde, bittet Neuhaus um Hilfe. Er hält den Zerfall der Dorfgemeinschaft, die verstreut und relativ gut entschädigt in Notunterkünften lebt, für das größere Übel als das Strahlenrisiko. Er möchte seine Gemeinde zur Rückkehr bewegen und eine Künstlerkolonie gründen. Vorbild sind der Monte Veritá und die Utopie eines neuen Lebens. Neuhaus fliegt hin.

Stifter als Referenz

In weiten Teilen schildert der Roman die Zustände im heutigen Fukushima: Er erzählt von den riesigen, mit abgetragener Erde gefüllten Plastiksäcken, es sind Millionen, keiner weiß, wohin damit. Er erzählt von der Verzweiflung in den Notunterkünften, und er schildert zwei verschmolzene Realitäten, die unsichtbar tödliche der Strahlung und die sichtbar schöne einer Natur, die gedeiht, wie wenn nichts gewesen wäre. Gemeinsam mit der Vertrauten Mitsuko fährt der alternde Neuhaus, dessen Geschichte distanziert in der Er-Form erzählt wird, immer näher an das Zentrum der Katastrophe. In der einen Hand hält er dabei den Geigerzähler, in der anderen Adalbert Stifters Erzählung Nachkommenschaften, die der Oberflächenhandlung eine weit ausgreifende Tiefenstruktur verleiht. Muschg zitiert ausgiebig aus "seinem" Stifter und lässt dessen Themen Kunst und Leben, Realität und Einbildung, Zugehörigkeit und Verwandtschaft anklingen. Er erweist sich dabei wie sein Vorbild als Meister der Andeutung und der Auslassung. Nichts ist in diesem Buch eindeutig, alles ist miteinander verbunden.

Es ist ein weites Feld, das dieser Roman durchschreitet. Einerseits thematisiert Heimkehr nach Fukushima das komplizierte Verhältnis Japans zur Kernenergie, an der das Land festhält, obwohl es nach Hiroshima zum zweiten Mal ihr Opfer wurde. Andererseits geht es um mehr als um Fatalismus und Technikgläubigkeit, nämlich um die Frage nach dem richtigen Leben. Nach einem Leben, das eine Zukunft hat, weil es um seine Vergangenheit weiß. (Stefan Gmünder, 22.10.2018)