Die Beziehungen zwischen den USA und Russland sind wegen vieler Streitpunkte zerrüttet. Dazu kommt jetzt die Ankündigung des US-Präsidenten, den INF-Vertrag, ein wichtiges Abkommen zur Rüstungskontrolle, aufzukündigen.

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Die USA machen Russland mit der Aufkündigung des INF-Vertrages ein Geschenk, sagt Martin Senn, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck. Russland spekuliere nämlich selbst schon länger mit einem Vertragsbruch. Schließlich sei es auch an der südlichen Flanke von Nachbarstaaten konfrontiert, die im Bereich von Kurz- und Mittelstreckenraketen ohne vertragliche Beschränkungen aufrüsten.

Für Europa wäre ein Ausstieg seiner Meinung nach nachhaltig negativ, weil die Raketensysteme Europa direkt bedrohen. Insgesamt sei die internationale Rüstungskontrolle von massiver Erosion betroffen. Im schlimmsten Fall könnte es seiner Meinung nach zu einer ungezügelten Rüstungsdynamik kommen, bei der es auch wieder um quantitative Modernisierung geht. Die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes habe zumindest zugenommen.

STANDARD: US-Präsident Trump hat angekündigt, aus dem Abrüstungsabkommen INF mit Russland auszusteigen. Steht uns jetzt wieder eine nukleare Aufrüstung bevor?

Martin Senn: Wir sind schon mitten in einer Aufrüstung. Russland und die USA reduzieren zwar ihre Arsenale quantitativ, sind aber beide seit einiger Zeit bestrebt, diese qualitativ zu verbessern – etwa mit Sprengköpfen, die zielgenauer sind und variable Sprengkraft haben. Jedenfalls scheint die Zeit der signifikanten Abrüstungsschritte vorbei zu sein.

STANDARD: Russland hat den INF-Vertrag verletzt. Ist es nur konsequent von den USA, ihn aufzukündigen?

Senn: Russland scheint tatsächlich vertragsbrüchig gehandelt zu haben. Es geht hier um einen Marschflugkörper – eine Ground-Launched Cruise Missile –, der mit einer Reichweite von über 500 Kilometern gegen die Bestimmungen des Vertrages verstoßen würde. Ich bin aber der Überzeugung, dass ein gewichtigerer Grund für den US-Austritt in einer gewissen Skepsis gegenüber Rüstungskontrolle an sich zu sehen ist. Diese Skepsis hat in den USA eine lange Tradition und war zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark prägend für die Rüstungs- und Rüstungskontrollpolitik der USA. Seit einigen Jahren ist die Ablehnung im US-Kongress sehr stark, und nun gibt es mit John Bolton auch wieder eine Person in der US-Administration, die der Meinung ist, dass Rüstungskontrolle keinen Mehrwert hat.

STANDARD: Auch Russland wirft der USA Vertragsbruch vor. Zu Recht?

Senn: Ich halte diese Anschuldigungen für wenig substanziell. Aber es wäre gerade die Aufgabe funktionierender Rüstungskontrolle, Unterschiede in der Wahrnehmung und Interpretation zu diskutieren und zu klären.

STANDARD: Wäre denn ein Ausstieg sinnvoll?

Senn: Nein. Die USA machen Russland damit ein Geschenk. Russland hat schon lange eine gewisse Frustration mit der Beschränkung von Mittelstreckenwaffen erkennen lassen. Schließlich ist es auch an in seiner Nachbarschaft mit Staaten konfrontiert, die im Bereich von Kurz- und Mittelstreckenraketen ohne vertragliche Beschränkungen aufrüsten (China, Nordkorea, Indien und auch Pakistan, Anm.). Durch die Ankündigung eines Ausstiegs wird man Russland wohl nicht zu vertragskonformem Handeln zwingen können. Ganz im Gegenteil: Es bietet sich Russland eine gute Gelegenheit und eine Möglichkeit, den USA einmal mehr die Schuld an der Krise der nuklearen Rüstungskontrolle zuzuweisen. Es wäre also besser gewesen, die Beschränkungen durch den INF-Vertrag aufrechtzuerhalten.

STANDARD: Was bedeutet das für Europa?

Senn: Für Europa wäre ein Ausstieg nachhaltig negativ. Diese Systeme sind nämlich vor allem für Europa eine Bedrohung, weil die Flug- und Vorwarnzeiten so kurz sind. In einer Krisensituation erzeugt dies erheblichen Druck und kann zu einer nuklearen Eskalation führen. Das war ja auch der Grund, warum man sich entschlossen hat, diese Klasse von Waffen zu verbieten. Aus meiner Sicht sind wir einmal mehr an einem Punkt angelangt, an dem sich Europa stärker in der internationalen Sicherheitspolitik engagieren sollte

STANDARD: Wie soll Europa konkret reagieren?

Senn: Europa muss sich dazu bekennen, dass nukleare und konventionelle Rüstungskontrolle das Gebot der Stunde ist. Es gilt, die Idee der Rüstungskontrolle weiterhin hochzuhalten und neue Wege in diesem Politikbereich anzudenken. Man könnte etwa einen Vorstoß in Richtung einer Multilateralisierung des Verbots von Mittelstreckenwaffen andenken, dass also nicht nur die USA und Russland mit einem solchen Verbot belegt wären, sondern alle Staaten, die über diese verfügen. Dieser Prozess wäre sicher nicht einfach und würde eine Führungsleistung Europas oder einzelner europäischer Staaten wie etwa Deutschlands benötigen.

STANDARD: Wie weit ist die Erosion der internationalen Rüstungskontrolle derzeit fortgeschritten?

Senn: Der ABM-Vertrag, ein erster Pfeiler der Rüstungskontrolle von 1972, der Raketenabwehrsysteme massiv eingeschränkt hat, ist weg (von den USA 2002 aufgekündigt, Anm.). Das hat unter anderem dazu geführt, dass die Rüstungsdynamik zwischen den USA, Russland und China komplexer wurde. INF ist am Sterbebett. Noch ist der New-Start-Vertrag (Vertrag zur Verringerung der strategischen Nuklearwaffen, Anm.) in Kraft, aber nicht mehr lange. Die Frage, was danach kommt, ist ungelöst. Wir sehen hier zwei parallele Entwicklungen: Die Rüstungsdynamik wird durch neue Technologien komplexer: Raketenabwehr, Hyperschallwaffen, qualitative Verbesserungen im Bereich der Nuklearwaffen. Auf der anderen Seite sehen wir die stückweise Erosion von Rüstungskontrollverträgen. Was die Rüstungskontrollarchitektur anbelangt, bewegen wir uns wieder auf den Status quo der Sechzigerjahre zurück, also in eine Zeit ohne nennenswerte Beschränkungen der nuklearen Rüstung und einer intensiven Rivalität zwischen den USA und Russland.

STANDARD: Was ist der Unterschied zu den Sechziger- und Siebzigerjahren, also der Zeit, in der die nukleare Rüstungskontrolle entstand?

Senn: In den Sechzigern kam man zu der Erkenntnis, dass die Sicherheit beider Machtblöcke miteinander verwoben ist und ein Mindestmaß an Kooperation gegeben sein muss. Trotz aller Gegensätze und Feindschaft kann Sicherheit im Nuklear- und Raketenzeitalter letztlich nur gemeinsame Sicherheit sein. Dieses Denken bröckelt – an die Stelle dieser gemeinsamen Sicherheit tritt wieder ein Verständnis, dass Sicherheit durch einseitige, nationale Maßnahmen gewährleistet werden kann.

STANDARD: Worauf kann das schlimmstenfalls hinauslaufen?

Senn: Zu einer ungezügelten Rüstungsdynamik, bei der es auch wieder um einen quantitativen Ausbau der Nuklearwaffenarsenale geht.

STANDARD: Nimmt die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes wieder zu?

Senn: Ja. Es ist insgesamt nach wie vor wenig wahrscheinlich, die Wahrscheinlichkeit nimmt aber zu. (Manuela Honsig-Erlenburg, 22.10.2018)