Midnight Choir aus Norwegen – mit ihrem Album Amsterdam Stranded hat die Band 1998 einen Monolithen des Balladenfachs erschaffen.

So ein erster Satz schafft natürlich gleich Vertrauen. Mit der Zeile "I’ve lost my religion" eröffnete der Midnight Choir vor 20 Jahren sein Album Amsterdam Stranded. Doch anstatt fröhlich schunkelnd die ähnlich fühlenden R.E.M. hochleben zu lassen, bogen sie ab ins Dunkel. In dunkle Schönheit.

Das Album kam scheinbar aus dem Nichts – wer hat schon die norwegische Musikszene auf dem Radar? Tatsächlich war es damals schon das dritte Album der blassen Skandinavier. Aha. Doch mit Amsterdam Stranded erregten sie erstmals jenseits der Fjorde Aufmerksamkeit. Kein Wunder, das Album ist ein Monster. Dabei ist es fragil – doch über die zehn darauf versammelten Songs erlangt es eine emotionale Wucht, dass so ein Vergleich am Ende zulässig erscheint.

Mit hängenden Schultern schlurft er in sein Album, der Midnight Choir. Aber einmal im Tritt, entfaltet er seine ungeahnte Pracht.
makis x.

Der Name der 1992 gegründeten Gruppe belehnt den Balladenkaiser Leonard Cohen – doch dessen Bariton sucht man in diesem Chor vergeblich; auch betrunken ist er nicht. Paal Flaata – so heißt die Stimme hier – ist ein paar Lagen höher angesiedelt, zwischen Desire und Desperation, doch nicht im Sinne wilder junger Männer.

Wenn die Uhr stehen bleibt

Flaata ist ein stiller Leider, ein Selbstzerfleischer. Wie er auf dem Cover des Albums betreten zu Boden blickt, das spricht scheinbar Bände über sein Wesen. Ein Konzert damals im Chelsea belegte das Image. Zwar soll er als einer der schönsten Männer Norwegens gegolten haben, auf der Bühne stand dann aber nur ein schlecht frisierter Typ in Tüchern aus der Altkleidersammlung. Wenn der aber seine Lungen füllte, um den Muddy River of Loneliness zu beschwören oder über die Gnade der Maria zu meditieren, blieb die Uhr stehen.

Muddy Rivers of Loneliness – Ennio Morricone geht in den Fjorden baden.
Aris Dimoulas

Flaatas Intonierung hebt einem die Poren, die Band macht hinter ihm alles richtig, im Zweifel ist das lieber zu wenig als zu viel. Sie trägt ihn, schützt ihn, ermutigt ihn. Das ergibt träge treibende Balladen, hypnotische Songs am Rande seelischer Zerwürfnisse.

Schwebende Balladen

Verantwortlich für die Produktion dieses Wunders war Chris Eckman. Der US-Amerikaner mit dem Charisma eines Religionslehrers aus den 1980ern war einst bei der Band Walkabouts tonangebend. Das war eine Sub-Pop-Band mit sehr traditionellen Wurzeln im Country und Rock. Zu ihrer hohen Zeit verkauften die Band aus Seattle zwei Abende hintereinander die Szene Wien aus und spielten mitreißende Konzerte jenseits der Zwei-Stunden-Grenze. Toll, aber nicht annähernd so welteroberungstauglich wie der Kurt und seine Boys.

Maria, voll der Gnade. Oder auch nicht. Der Midnight Choir ist ein Hort des Zweifels. Das nährt die Verzweiflung und die treibt die schönsten Blüten.
Aris Dimoulas

In Falle des Midnight Choir erwies sich die Hereinnahme Eckmans als Goldgriff. Er machte alles richtig, bekräftigte die Band darin, ihre Visionen mit der dafür notwendigen Zeit umzusetzen. Das konnte je nach Song acht Minuten dauern oder nur knapp über eine. Isses fertig, dann isses fertig, die Resultate sprechen für sich.

Die Balladen des Chors scheinen nachgerade in den Raum zu schweben, diverse Ambientgeräusche unterfüttern die Instrumentierung von Klavier, verhallter Gitarre, Streichern, Orgel oder Beserlschlagzeug, errichten Flaatas Gesang ein Podest im dunkelsten Winkel. Dort, mit dem Gesicht zur Wand, ringt er um seine Haltung – um sie dann in schmerzlicher Pracht aufzugeben.

Keine andere Band hat den 8. Oktober so wunderschön besungen wie der Midnight Choir.
Daniel Andersen

Hätte Sergio Leone je einen Film in den Fjorden gedreht, der Midnight Choir hätte den Soundtrack dafür produziert. Lichtscheue Balladen, die mitunter zu erstaunlicher Vitalität neigen – bevor das ewige Dunkel des Winters kommt, erhellt nur von gespenstischen Nordlichtern, die einem Aberglauben zuarbeiten, neben dem profane Hoffnung keinen Platz findet.

Zwei weiterer Alben brachte der Midnight Choir bis 2003 noch hervor, dann verliert sich die Aufzeichnung. Die späteren Arbeiten waren allesamt beachtlich, orientierten sich hörbar an den in den 1970ern entstandenen Arbeiten von Neil Young – On The Beach ... – sind also nicht schlecht. Doch an die erschütternde Wirkung von Amsterdam Stranded reichten sie nicht heran.

Ein Song noch vom Folgealbum, das großartige Snow in Berlin. Neil Young lässt grüßen. Da soll Schlimmeres passieren.
JennyGSS

Paal Flaata betreibt seit damals eine offenbar erfolgreiche Solokarriere. Mittlerweile tritt der heute 50-Jährige in dunklen Anzügen auf. Er verkauft sich glaubwürdig als nordischer Chris Isaak, covert dessen Wicked Games oder singt – etwas zu Ikea-Family-tauglich – Oh Happy Day mit einem Gospelchor, und der ist kein Midnight Choir. Der trifft sich hin und wieder, um auf einem Festival einen schnellen Groschen abzugreifen. Zumindest gibt es Aufnahmen von 2016, die das belegen. Soll sein, sei ihnen vergönnt.

Brüder im Geiste

Flaata allein hat mittlerweile elf Alben veröffentlicht. Darunter befinden sich mehre reine Coveralben, auf denen er sich Songwritern wie Mickey Newbury und Townes Van Zandt widmet. Das passt. "Nicht alle meine Songs sind traurig, mache sind auch hoffnungslos." Das hat Van Zandt einmal gesagt – dem Midnight Choir war das Gesetz. (Karl Fluch, 23.10.2018)