Jürgen Trittin sieht die Grünen als Gegenpol zur AfD.

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STANDARD: Am 27. Oktober 1998 wurde das erste rot-grüne Kabinett in Deutschland vereidigt. War die Freude damals größer – oder doch die Nervosität?

Trittin: Wir Grüne haben uns tierisch gefreut. Wir hatten vier Jahre darauf hingearbeitet. Gerhard Schröder wollte ja nach der Abwahl von Helmut Kohl (CDU) eine große Koalition. Aber schon am Wahlabend, als die SPD-Basis "Rot-Grün! Rot-Grün!" skandierte, war klar: Er muss mit uns regieren.

STANDARD: Nach der Vereidigung dominierten bald die Negativschlagzeilen nach dem Motto: "Rot-Grün kann es nicht."

Trittin: Wir erlagen anfangs unserem eigenen Übermut. Lafontaine war schon Ministerpräsident im Saarland gewesen, Schröder in Niedersachsen, Joschka (Fischer, Anm.) und ich waren Landesminister. Aber es ist etwas völlig anderes, im Bund zu regieren, wo der Lobbydruck und die mediale Aufmerksamkeit viel größer sind. Auch die Form der Kompromissbildung, die man sich auf dem Land augenzwinkernd gönnt, war nicht mehr möglich. Alle mussten im ersten halben Jahr viel lernen.

STANDARD: Was war die schlimmste Erfahrung?

Trittin: Eindeutig der Kosovokrieg.

STANDARD: Er war 1999 der erste mit deutscher Beteiligung – ohne UN-Mandat. Wie ging es Ihnen da?

Trittin: Es ist nicht vergnügungssteuerpflichtig, im eigenen Wahlkreis am Göttinger Marktplatz ausgepfiffen zu werden.

STANDARD: Die Grünen hätten es eigentlich kommen sehen müssen.

Trittin: Wir alle wussten vor der Regierungsbildung, was von einer deutschen Regierung erwartet wurde. Noch während der Koalitionsverhandlungen fuhren Schröder und Fischer zum damaligen US-Präsidenten Bill Clinton nach Washington. Er machte klar, dass er erwarte, dass Deutschland sich an einem möglichen Militärschlag gegen Milosevic beteilige.

STANDARD: Und die Grünen verdrängten es?

Trittin: Wir setzten darauf, dass Milosevic – wie häufig zuvor – im letzten Moment beidrehen würde und es nicht zu Militärschlägen kommt. Es kam anders, und wir Grüne verloren bis zum Jahr 2000 gut die Hälfte unserer Wählerschaft.

STANDARD: Bei der nächsten Bundestagswahl im Jahr 2002 legten Sie aber zu. Wie kam es dazu?

Trittin: Wir zogen unser wichtigstes Projekt durch: den Atomausstieg und den gleichzeitigen Einstieg in die erneuerbaren Energien. Das war eine Revolution, jährlich wurden 20 Milliarden Euro investiert. Die Kosten für Photovoltaik und Windenergie sanken um 90 Prozent. Und wir haben auch klare Kante gegen den Irak-Krieg gezeigt.

STANDARD: Gerhard Schröder meinte damals, die SPD sei in der Koalition Koch, die Grünen nur Kellner. Jetzt ist es fast umgekehrt. Ist das eine Genugtuung?

Trittin: Nein, die verspüre ich nicht. Es würde mich freuen, wenn die Sozialdemokraten nicht so schwach wären und wir eine Mehrheit links der Mitte zustande brächten. Doch leider gibt es Rot-Grün nur noch in den Städten Hamburg und Bremen.

STANDARD: Woher kommt das derzeitige grüne Hoch?

Trittin: Es gibt so etwas wie einen Schweinezyklus bei den Grünen. Zwischen den Wahlen geht es uns meist gut. Außerdem haben wir uns als einzige Partei überzeugend personell erneuert. Annalena Baerbock und Robert Habeck (die beiden Co-Vorsitzenden, Anm.) strahlen aus, dass sie das Land pragmatisch verändern wollen.

STANDARD: Profitieren die Grünen auch von der AfD?

Trittin: Wir sind auf der neuen transnationalen Konfliktlinie der Gegenpol zur AfD. Es geht darum, wie man auf die Globalisierung reagiert: national oder mit dem Versuch einer gemeinsamen europäischen Anstrengung. Diese Konfliktlinie trennt nicht links und rechts, sondern verläuft durch alle Parteien, außer durch die Grünen. Wir sind die einzige Partei, die proeuropäisch ist, aber in ihrer Globalisierungskritik nicht nationalistisch denkt. Diese Klarheit macht uns stark.

STANDARD: Werden die Grünen jetzt Volkspartei?

Trittin: Nein, wir erleben gerade das Ende der Volksparteien. Wir laufen auf ein Parteiensystem zu, wo es drei, vier mittelgroße Parteien gibt – zusammengehalten von gemeinsamen Interessen und Überzeugungen. Und wir Grünen arbeiten daran, eine dieser größeren Parteien zu werden. (Birgit Baumann aus Berlin, 23.10.2018)