Mithat Sancar ist Jus-Professor und Abgeordneter der prokurdischen Parlamentspartei HDP.

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Die türkische Regierung verteidigt in diesen Tagen große Werte. Menschenrechte, das Prinzip des Rechtsstaats, selbst grundsätzliche Formen des zivilen Umgangs macht die politische Führung in der Türkei im Fall des mutmaßlich ermordeten saudischen Journalisten Jamal Khashoggi zum Thema. Dass eine autoritäre Regierung einer anderen Lehren in Sachen Recht und Moral erteilt, ist dabei eine ungewohnte Situation.

Denn schließlich erlebt die Türkei seit dem Verfassungswechsel und dem Umbau des Regierungssystems eine neue Phase in der fast hundertjährigen Geschichte ihrer Republik. Man muss in die Zeit vor der Gründung der Türkischen Republik im Oktober 1923 gehen, in die Jahre der autoritären Herrschaft der Jungtürken, um eine ähnliche, allen Dissens niederwalzende Verbindung von "Türkismus" und Nationalismus zu finden, sagt Mithat Sancar, ein Jus-Professor und Abgeordneter der prokurdischen Parlamentspartei HDP.

Zwei Termine in Wien: "Nach dem Putsch"

Der 55-jährige Oppositionspolitiker ist einer der kritischen Intellektuellen aus der Türkei, die am Montag und Dienstag in Wien an Podiumsdiskussionen über die inneren Verhältnisse des Landes teilnehmen. Am Montagabend stellte das Wiener Institut für internationalen Dialog und Zusammenarbeit (VIDC) in der Hauptbücherei Wien einen neu erschienenen Sammelband mit kurzen Analysen unter dem Titel "Nach dem Putsch. 16 Anmerkungen zur 'neuen' Türkei" vor.

Am Dienstagabend lädt Reporter ohne Grenzen (RSF) zu einer Diskussion im Juridicum Wien ein mit dem Titel "Türkei – wie und warum jeder als Terrorist angeklagt werden kann". Mit von der Partie ist dort auch Erol Önderoğlu, der Vertreter von RSF in der Türkei, der selbst zusammen mit mehr als 20 anderen Journalisten wegen einer eintägigen, solidarischen Übernahme der Redaktionsleitung der mittlerweile zwangsgeschlossenen Tageszeitung "Özgür Gündem" (etwa: Aktualität "Freiheit") vor Gericht steht.

Die Justiz in der Türkei sei mittlerweile so sehr politisiert, erklärt Önderoğlu, dass die vornehmliche Sorge von Richtern und Staatsanwälten ist, ein Land zu schaffen, das geeint um die Regierung steht. Um "nationale Sicherheit" geht es, so sagt Önderoğlu, nicht länger um die Wahrung von Grundrechten.

Gewinnbare Wahlen

Wie viel Demokratie in der Türkei nach dem Übergang zum Präsidialregime noch bleibt, ist eine der Fragen, die sich kritische Bürger im Land selbst täglich stellen, aber auch die Regierungen in Europa, die mit dem türkischen Staatschef Tayyip Erdoğan weiter umgehen müssen. Der Eindruck sei wohl, dass Wahlen in der Türkei für die Opposition nicht mehr gewinnbar seien, die Bedingungen mittlerweile so unfair und die Manipulationen so weitgehend, dass Erdoğan stets siegt, sagt Mithat Sancar. Doch diese Sicht trügt, glaubt der HDP-Politiker und verweist auf das nur knappe Ja zum Verfassungswechsel im April 2017 und auf den Verlust der absoluten Mehrheit für Erdoğans Partei im Parlament bei den Wahlen im vergangenen Juni.

"Die Oppositionsparteien müssen eine möglichst breite Allianz finden. Darauf kommt es nun an", sagt Sancar. Er spricht von einem "einfachen, gemeinsamen Nenner": Demokratie, Wiederherstellung von Rechtsstaat und Achtung der Menschenrechte. Seine Partei, die HDP, sei bei den nächsten Wahlen bereit zu einem solchen Bündnis. Für März nächsten Jahres sind in der Türkei Kommunalwahlen angesetzt.

Wunsch nach Politikwechsel

Das Bedürfnis nach einer grundlegenden Korrektur der Politik ist in Erdoğans Türkei – ganz anders, als man glauben möchte – mittlerweile groß, die programmatische Leere sehr wohl für weite Teile der Gesellschaft fühlbar. Zu diesem Schluss kommt Ayşe Çavdar, Anthropologin und eine der Autorinnen des Sammelbands "Nach dem Putsch". Erdoğan und seine konservativ-islamische AKP hätten ihr Versprechen nicht erfüllt.

"Sie konnten keine sozial gerechte Gesellschaft schaffen", stellt Çavdar fest. Was man nun von Erdoğan-Anhängern in der Türkei und im Ausland nach 16 Jahren Regierungszeit hört, ist eben das: Wiederholen des Lobs über große Bauten, Nachplappern von Verschwörungstheorien, doch nichts, was sich im politischen Ideenwettstreit in die Waagschale werfen ließe.

Çavdar studierte den Bruderkrieg zwischen Tayyip Erdoğan und Fethullah Gülen, der mit dem Putsch und Gegenputsch im Juli 2016 seinen Höhepunkt erreichte. Sie kommt zu bemerkenswerten Einsichten. Çavdars letzte Schlussfolgerung: Erdoğans neue Herausforderer stehen schon bereit, Muslime mit sozialer Agenda wie die Emek ve Adalet Platformu (Brot-und-Gerechtigkeit-Plattform) oder die Antikapitalistischen Muslime mit İhsan Eliaçik als einem ihrer Wortführer – allesamt so marginal wie auch Erdoğan einst war.

Gülen und Erdoğan

Çavdars Ausgangspunkt: Erdoğan und Gülen sind zwei Seiten einer Medaille, zwei türkische Islamisten, die mit ähnlichen Methoden dasselbe Ziel der politischen Vormacht im Land anstrebten. Aus Islam wurde Islamismus, sagt Çavdar, ein Hegemonieprojekt, das mit der Religion selbst im Prinzip nichts mehr zu tun hat. Überraschend war, dass sich Gülen und Erdoğan im Jahr 2002 zusammentaten, nicht aber, dass ihre Kooperation auseinanderbrechen würde, als es nichts mehr zu erobern gab in der Türkei.

Wie geht es weiter mit Erdoğans Türkei? Für Ayşe Çavdar, die an der Universität von Marburg in Deutschland arbeitet, ist auch das Ende von Erdoğans Bündnis mit den gleichgesonnenen rechten Ultranationalisten der MHP nur eine Frage der Zeit. Wieder sind es zwei politische Gruppen mit denselben Zielen und Wählern.

Absetzung von Bürgermeistern

Mithat Sancar sieht trotz des Rests an Optimismus, den er sich behält, die fortgesetzte Kriminalisierung seiner Partei durch die Regierung als eine große Gefahr für den Zusammenhalt im Land. Die Wahl und die Erteilung eines Mandats durch den Bürger sei eine Nabelschnur, die die Gesellschaft in der Türkei verbindet. Setzt sich die massenweise Absetzung und Inhaftierung gewählter Parlamentarier und Bürgermeister der HDP nun fort – etwa nach den nächsten Kommunalwahlen –, steuert die Türkei in eine Zeit zusätzlicher Unsicherheiten und der Konfrontation.

Erol Önderoğlu schließlich, der renommierte türkische Journalist, wünscht sich eine besser durchdachte, strategische Herangehensweise der Europäer an das Erdoğan-Regime. Die Europäer müssten unnachgiebig und aufrichtig gegenüber der politischen Führung in der Türkei sein, um den Respekt demokratischer Werte zu erreichen. "Das muss möglich sein", sagt Önderoğlu. Längst schon beginnen die Türken angesichts der wirtschaftlichen Probleme zu zweifeln, dass das, was ihnen täglich im Fernsehen serviert wird, die Wahrheit im Land sei. (Markus Bernath, 22.10.2018)

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