Das mit Ehrgeiz, Ehrlichkeit zu sich selbst und Eitelkeit ist ein hundsgemeiner Selbstleger-Hattrick: Als wir danach in der Kaffeewerkstatt saßen und den Tag Revue passieren ließen, war ich nämlich beinahe enttäuscht. Und ein bisserl neidig – zumindest auf Dominik und Cornelia, weil die beiden den "Klassiker" gelaufen waren.

Also den 27-Kilometer-Lauf rund um den See, den Wolfgangsee nämlich. Und der gilt nicht zufällig als einer der schönsten Landschaftsläufe Österreichs – wenn nicht als schönster überhaupt. Und auch wenn da "nur" eine Kilometerzahl knapp über dem Halbmarathon am Tacho steht: Den Klassiker vom Wolfgangsee sollte man nicht unterschätzen, die 300 Höhenmeter zum Falkenstein hinauf sind kein Lercherlschas.

Foto: thomas rottenberg

Genau darum hatte ich auch gekniffen – so sah ich das jedenfalls im Nachhinein – und mich nur für den 10k-Lauf angemeldet: Als "Wiener am Land" für den "Uferlauf". Malerisch, schön und chillig und eben am Ufer entlang. Zwei Wochen nach Chicago und eine Woche vor dem nächsten Halbmarathon sollte das wohl genügen, hatte ich mir vorher zumindest gesagt.

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Wolfgang, der Vierte im Bunde, war aber den Marathon gelaufen: ehrenvoll und hart, aber mir grad wohl tatsächlich eine Nummer zu groß. Und zweitens eine andere Geschichte.

Foto: thomas rottenberg

In Wirklichkeit muss ich niemandem was beweisen, am allerwenigsten meinen Freunden. Und beschweren darf ich mich sowieso nicht: Das Laufprogramm, das ich diese Saison absolvieren durfte und noch weiter darf, ist mehr als ein Geschenk. Und immer Vollgas zu geben geht irgendwann auch an die Substanz und den Spaß.

Deshalb freute ich mich zwar wie ein Schneekönig, als mich die Veranstalter des Wolfgangseelaufes vor ein paar Monaten fragten, ob ich heuer wieder dabei sein wolle, verordnete mir aber gleichzeitig selbst, es entspannt-reduziert anzugehen: Der Zehner sollte und würde genügen.

Foto: thomas rottenberg

Es war, um es gleich vorweg zu sagen, wieder einmal eine Einladung, weil Veranstalter und Tourismusverbände mittlerweile erkannt haben, dass Laufevents ein wichtiges regionales Asset zur Belebung der Nachsaison sind: Der Wolfgangseelauf wurde heuer zum 47. Mal ausgetragen. Mittlerweile melden sich da insgesamt rund 6.000 Starterinnen und Starter für die Kinderläufe und die vier Hauptläufe (5, 10 und 27 Kilometer sowie den Marathon) an. Und auch wenn es nicht so ist, dass das Salzkammergut im Allgemeinen und St. Wolfgang im Besonderen im Sommer zu wenige Gäste hätten, ist es dann doch nicht unwichtig, zum Saisonschluss hin noch ein bisserl was mitzunehmen.

Foto: thomas rottenberg

Eine Milchmädchenrechnung: Von den 6.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern kommt vermutlich rund die Hälfte "nur" aus der Region. Aber 3.000 Gäste, die – oft genug in Begleitung – anreisen, eventuell ja schon am Freitag, übernachten, essen, mit der Schafbergbahn oder den Schifferln am See herumschippern, dabei ein bisserl rustikal-regionale Authentizität erleben wollen, auch jetzt noch da zu haben oder nicht, macht einen echten Unterschied.

Besonders für die kleinen Betriebe, also für die Frühstückspensionen und Gasthöfe, die für die großen (jetzt meist asiatischen) Busgruppen nicht eingerichtet sind. Dafür dann eine Einladung für zwei Startplätze und zwei Nächte mit Frühstück auszusprechen ist eher kein "stranded Investment", sondern gut eingesetztes PR-(Klein-)Geld: Die Botschaft landet genau bei der Zielgruppe.

Foto: thomas rottenberg

Wir, mein Freund Wolfgang und ich, waren im Illighof untergebracht, einer geradezu archetypischen Urlaub-am-Bauernhof-Frühstückspension: Was an Schnickschnack und Design (eh nicht) fehlt, macht die Gastgeberin, Frau Mayerhuber, durch Herzlichkeit und Empathie ("Sie laufen den Marathon, na da mach ich Ihnen das Frühstück natürlich vor sechs. Was hätten Sie denn gerne?") wett. Die Betten sind alt, aber nicht durchgelegen – und man könnte sogar vom Boden essen: Mehr brauche ich nicht.

Das Haus war voll, mit Läufern und ihren Familien. "Bleiben Sie ruhig bis zum Nachmittag. Nach Ihnen ist die Saison eh vorbei", freute sich Frau Mayerhuber auf ihren Urlaub: "Wir fahren nach Rom. Und noch ein bisserl weiter südlich. Eine Pilgerreise. Glauben Sie, ich krieg jetzt noch ein bisserl Sonne und Wärme ab?"

Foto: thomas rottenberg

Ursprünglich hatte ja auch Wolfgang nur einen lockeren Zehner in schöner Landschaft laufen wollen, doch er entschied sich in allerletzter Sekunde um: Er war vergangene Woche in Wien beim LCC-Herbstmarathon über die Volldistanz angetreten. Aber es gibt Tage, an denen der Körper nicht mitspielt. Das muss man dann zur Kenntnis nehmen.

Das Gute am superdichten Herbstlaufprogramm in Österreich ist, dass man sich von einem solchen schlechten Tag nicht entmutigen lassen muss, sondern es gleich nochmal probieren kann: Der Salzkammergut-Marathon ist mit über 400 Höhenmetern zwar ein anderes Kaliber als das superflache Imkreislaufen im Prater – aber wenn es nicht um die Zeit, sondern ums "Ich lass mich nicht von mir selbst ärgern"-Ding geht, ist das vielleicht sogar besser.

©Wolfgang Kurz

Der Wolfgansgeelauf fand heuer zum 47. Mal statt. Mit dem Rekord von rund 6.000 Starterinnen und Startern zu sämtlichen Events (Kinderläufe am Samstag und die Läufe über 5, 10, 27 und 42 Kilometer am Sonntag) ist der Plafond des Machbaren vermutlich beinahe oder vielleicht ja sogar tatsächlich erreicht: Der Marathon, erzählte Wolfgang, sei mit knapp 250 Startern zwar freundlich, amikal und familiär. Aber die Strecken seien teils – erst recht, sobald man sich den Weg mit den 27-Kilometer-Läufern (heuer starteten rund 1.900) teilt – recht eng. Überholen sei dann bei den anspruchsvollen Bergaufpassagen kaum möglich.

Beim Zehnkilometerlauf, der heuer bei den Anmeldungen, Teilnehmern und Finishern den Klassiker erstmals einholte, ist stellenweise auch nicht unbedingt viel Platz. Zumindest im Hauptfeld auf dem ersten Drittel.

Foto: thomas rottenberg

Ich startete diesmal deshalb "korrekt" – also im ersten Block und dort halbwegs vorne: Zehn Kilometer in sub 45 Minuten schaffe ich derzeit ohne Probleme. Wenn ich unterwegs zum Fotografieren stehenbleibe oder ein paar Extrameter neben der Strecke mache, müssten sub 50 auch noch easy drin sein.

Den 40-Minuten-Pacer ließ ich also ziehen. Aber dann schaute ich, vor dem 50er-Pacer und seinem Block zu bleiben.

Die Entscheidung war richtig: Nach 300 Metern auf einer zweispurigen Straße verjüngt sich die Strecke auf einen schönen, aber eben einspurigen, geschotterten Wanderweg. Das Nadelöhr ist hier eine kleine Brücke. Vor der hatte es sich vor zwei Jahren, als wir mitten im zweiten Block gestartet waren, mächtig gestaut.

Foto: thomas rottenberg

Vorne ist es aber einfacher: Nach nicht einmal einem Kilometer hatte sich das Feld so gut auseinandergezogen, dass man nie enger als zu zweit nebeneinander lief. Überholen war kein Problem.

Auch weil Läuferinnen und Läufer, die dieses Tempo gehen, meist diszipliniert sind und genug Erfahrung haben, einander zu respektieren: Eine Pace (also die Minuten pro Kilometer) zwischen 4'15" und 4'45" ist nicht hammerschnell, aber für Hobbyläufer doch eine Geschwindigkeit, bei der man sich Rennen und Kräfte halbwegs einteilen können sollte.

Foto: thomas rottenberg

Und meist auch kann. Zumindest hier liefen alle kollegial – wissend, dass man nicht schnell genug ist, um mit der echten Spitze mitzuhalten, aber eben doch so flott, dass man aufpassen muss, an wessen Fersen man sich hängt: Der vermeintlich minimale Unterschied von fünf oder zehn Sekunden pro Kilometer mehr kann schon zu bösen Überraschungen auf halber oder zwei Dritteln der Strecke führen: Einander da zu blockieren, nicht vorbeizulassen oder stur an den Fersen kleben zu bleiben bringt weniger als es kostet.

Und wenn sich der Großteil der Läuferinnen und Läufer ans Kopfhörerverbot hält, genügt dann auch auf einer schmalen Strecke ein knappes "Ich komme links/rechts/zwischen euch" – und alle haben Spaß.

Foto: thomas rottenberg

Erst recht wenn nicht nur die Landschaft, sondern auch das Wetter passt: Als Wolfgang sich zeitig zum Marathonstart nach Ischl aufgemacht hatte, war es noch zapfig. Angesichts des Windes hatte ich überlegt, über das Shirt ein Windgilet zu nehmen. Ärmlinge hatte ich sowieso an: Die wiegen nichts, und man kann sie jederzeit rauf- oder runterschieben – für meinen Temperaturhaushalt ist das ideal.

Doch das Wetter war gnädig: Rechtzeitig vor dem Start erstarb der Wind. Aus "kalt" wurde "angenehm frisch". Und als wir am Ufer waren, blinzelte die Sonne durch: Postkartenlicht auf frühherbstlicher Kitschlandschaft.

Foto: thomas rottenberg

Mittlerweile hatten sich auch halbwegs fixe Gruppen gebildet. Das ist mit einer der Vorteile vom Laufen bei Events, bei denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Startblockdisziplin haben: Man findet sich und einander relativ rasch – und wenn man in einem Pulk ist, in dem alle in etwa die gleiche Pace gehen, tut man sich leichter. Man kann sich drauf verlassen, dass die Läuferinnen und Läufer ringsum das Tempo halten, während man sich treiben oder ziehen lässt. Sich Gegend und Panorama anschaut – oder den Fokus hin und wieder nach innen richtet: Wie geht es mir? Passt muskulär und mental alles? Wie steht es mit den Reserven? Laufe ich sauber? Sollte ich etwas ändern? Schneller? Runter vom Gas?

Aber vor allem: Wieso lachen rund um mich grad alle? Hab ich was versäumt?

Foto: thomas rottenberg

Ziemlich genau auf halber Strecke führt der Uferlauf vom Ufer weg: Man kommt am Start des fünf Kilometer kurzen Panoramalaufs in Strobl vorbei und verlässt dann den Uferbereich, um eine Schleife rund um den Bürglstein zu ziehen. Danach geht es wellig am Radweg wieder Richtung See. Landschaftlich war es schon prickelnder und wird auch gleich wieder fein – aber die Art und Weise, wie regionale Betriebe ein bisserl Kreativität in die Landschaft bringen wollen, hat und kann auch was.

Foto: thomas rottenberg

Spätestens jetzt zeigt sich, dass "nur ein 10er" überheblich ist. Und Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall: Ja, 10k-Läufe sind die Volkslaufdistanz schlechthin, weil das fast jede und jeder schaffen kann. Aber natürlich kann man sich dabei auch grandios abschießen – eben wenn man den Lauf auf die ganz leichte Schulter nimmt. Zwischen Kilometer fünf und sechs holten wir jede Menge Selbstüberschätzer ein – oder verloren sie aus unserem Block: Wer jetzt noch dabei war, wusste ich, würde wohl nicht mehr abreißen.

Foto: thomas rottenberg

Und das, obwohl es Richtung St. Wolfgang nun bergauf ging. Bei weitem nicht so steil oder so weit wie bei der 27-Kilometer-Strecke auf den Falkenstein hinauf, aber eben doch.

Dass man das meist gar nicht wirklich mitbekommt, hat einen Grund: Man ist abgelenkt …

Foto: thomas rottenberg

… und zwar von diesem Panorama: War der Lauf das Ufer entlang schon ein Traum, schießt es insbesondere Städtern spätestens hier den Vogel raus. Das Salzkammergut ist schön, am Wolfgangsee ist es besonders schön.

Aber: Bei diesem Wetter in dieser Gegend so einen Lauf erleben zu dürfen ist dann unschlagbar. Erst recht, wenn die Sonnenstrahlen sich immer öfter ihren Weg durch die in der Früh noch so undurchdringlich wirkende Wolkendecke bahnen – und die Straßen de facto autofrei sind.

Foto: thomas rottenberg

Wenn man dann in den Ort, also nach St. Wolfgang kommt, sind es gerade noch 500 Meter bis ins Ziel. Bevor es im Heimatfilmsetting, das auf Straßenlevel mittlerweile aber wie in so vielen andere Orten auch vom Übermaß an Ramsch- und beliebigen Souvenirshops (von Plüschlamas über Esoschmock bis zu überteuerten WW-1-Modellflugzeugen) zu einer fast schon global austauschbaren Eurotrashmeile verkommen ist, bergab und ins Ziel geht, gibt es noch einmal diesen Blick auf den See.

Foto: thomas rottenberg

Obwohl sich den hier kaum mehr wirklich gönnt: Vollgas bergab. Auf die Kirche und die letzte Kurve zu …

Foto: thomas rottenberg

… links könnte man jetzt noch einen Blick auf das "Weisse Rössl" werfen. Aber zumindest in meinem Block sah da keiner hinüber, geschweige denn nahm man sich die Zeit, kurz irgendeine der Melodien des Singspiels von Ralph Benatzky oder der zahllosen Verfilmungen – mit oder ohne Waltraud Haas – anzustimmen: Hier runter wurde man einfach nur noch schnell.

Jetzt von der Innen- auf die Außenspur zu wechseln und dann auch noch stehen zu bleiben war in etwa so, als versuche man auf einer deutschen Autobahn mit dem Tretroller auf die Überholspur zu kommen.

Foto: thomas rottenberg

Aber es ging: Ich wollte noch einmal die Publikumsperspektive haben, also die Zielgerade samt Zuschauerspalier. Dass die Leute einen, der 20 Meter vor dem Ziel stehen bleibt und die Kamera anwirft, für ein bisserl neben der Spur halten? Was soll's: Erstaunte Blicke und Kommentare, wenn ich querfeldein ins Gemüse abbiege, bin ich gewohnt. Mittlerweile hab ich aber den Trick raus (hoffe ich zumindest), anderen dabei nicht im Weg zu sein. Und die meisten Leute freuen sich tatsächlich, wenn unterwegs eine Kamera auf sie gerichtet ist. Die anderen lasse ich, wenn ich es mitbekomme, eh in Ruhe.

Foto: thomas rottenberg

Den "klassischen" Dialog, der sonst unterwegs meist drei- bis viermal leicht variiert abläuft, gab es diesmal in voller Länge erst nach der Ziellinie. Ein gutes Zeichen: Die Menschen, mit denen ich diese zehn wunderschönen Kilometer gelaufen war, hatten also wirklich gegeben, was sie an diesem Tag geben konnten. Jede und jeder auf seine oder ihre Art.

"Oida, ich pack dich nicht: du rennst eine 42er-Zeit an – und dann kletterst alle paar hundert Meter wo rauf oder bleibst stehen? Das kostet doch jedes Mal eine halbe Minute. Und Kraft." Ja und? "Aber du verscheißt eine gute Zeit!" Und was hätte ich von der? "Auch wieder wahr." Congrats! "Ja, dir auch, war heute echt ein super Lauferl."

Foto: thomas rottenberg

Natürlich könnte ich jetzt hochrechnen, was statt meiner 47:29 (dem 275. Gesamtrang, dem 241. Platz bei den Männern und dem 29. Platz meiner Altersklasse) da drin gewesen wäre. Nur: Wozu? Soll ich die bronzene Haselnuss meiner Altersklasse tatsächlich gegen die silberne Himbeere eintauschen?

In der Elite, bei den jungen und den Leistungssportlern verstehe ich das. Und wenn es andere Leute glücklich macht: Soll sein.

Nur: Solange ich mit einem Lächeln ins Ziel komme, muss ich niemandem was beweisen. Nicht einmal mir selbst. Genau das macht solche Läufe ja so fein. Und irgendwann lerne ich vielleicht, mir das nicht unmittelbar danach dann selbst wieder auszureden: Der Zehner war nämlich wirklich schön – und den 27er kann ich vielleicht nächstes Jahr angehen. (Thomas Rottenberg, 24.10.2018)

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Start und Aufenthalt von Wolfgang und Tom in St. Wolfgang waren eine Einladung der Veranstalter und des lokalen Tourismusverbandes.

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