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Die Tochter einer depressiven Mutter, gespielt von Michaela Bilgeri, kennt eine Million Sachen, für die es sich zu leben lohnt: Freundliche Katzen und Pizza zum Frühstück sind zwei davon.

Foto: Andreas Friess

Wien – "Learning to Love You More" hieß ein wunderbares Projekt von Miranda July und Harrell Fletcher, in dem sie vor einigen Jahren in ihrem Blog aufforderten, kleine Aufgaben zu erfüllen mit dem Ziel, sich selbst ein bisschen mehr zu lieben: das eigene Bett als Papiermodell nachbauen, eine Narbe dokumentieren, die Sonne fotografieren oder die sich küssenden Eltern.

Die Protagonistin in Duncan Macmillans Stück All das Schöne (im Original: Every Brilliant Thing) hat einiges beizutragen zu schönen Sachen, für die es sich zu leben lohnt: Nummer eins auf ihrer Liste ist, ganz klar, Schokolade, Nummer zwei Wasserschlachten mit Wasserbomben. Darauf folgt, mit sieben Jahren noch, beide Seiten vom Twinni zu essen. Das Schöne ist auch ein Klavier in der Küche, vor allem, wenn Mama spielt und singt.

Besagte Mama findet es schwierig, genügend Dinge zu sehen, für die es sich zu leben lohnt. Sie liegt nach einem Suizidversuch im Krankenhaus. Dort setzen Macmillans Text und Esther Muschols Inszenierung im Theater Drachengasse an, in der Kindheit ihrer Protagonistin, von Michaela Bilgeri in Anekdoten illustriert. Begleitet wird sie von Andreas Dauböck, der die Jazzplatten des Vaters ebenso wie die Lieblingsmusik der Mutter live auf der Bühne vertont.

Allein ist Michaela Bilgeri nie und spielt immer wieder mit Zuschauerinnen und Zuschauern: Eine ist spontan Tierärztin, einer gibt die Kinderpsychologin, ein anderer mimt den Vater, der sich lieber in seine Schallplattensammlung flüchtet, als mit seiner Tochter zu sprechen. Bilgeri ist ständig in Bewegung, erzählt, erklärt, hinterfragt, ist mal berührend, mal berührt und führt mit einer großartigen Leichtfüßigkeit durch den Abend. Die Interaktion mit dem Publikum ist nie übergriffig oder gezwungen, die Stimmung beschwingt und aufgeschlossen.

Die Liste an Schönem wird länger. Ágnes Hamvas' Bühne gibt weitere Dinge preis, und das Publikum ergänzt sie durch Sachen auf verteilten Zetteln und durch Eigenes: Nacktbaden, Erdbeercreme und im Urlaub zu viel Geld ausgeben, weil die fremde Währung wie Monopoly-Geld wirkt. Das Wort "fragil", Gespräche, Palindrome, Sex, Schnee und Sushi. In dem kleinen Raum der Drachengasse rückt man näher zusammen.

Soul und Jazz dienen der Sprachlosigkeit über die Krankheit der Mutter als Brückenschlag zwischen Vater und Tochter, später auch zwischen der Tochter und ihrem Geliebten. Das Stück umkreist die ungestellte Frage, warum man als Kind denn nicht Grund genug ist, das Leben lebenswert zu finden – und versinkt dabei nie in Selbstmitleid. Die vielen schönen Dinge rufen Erinnerungsschnipsel hervor und lassen fast vergessen, dass das Thema ein schweres ist, so lebensbejahend kommt der Abend daher.

Im Sinne Julys und Macmillans lässt sich die Liste zu All dem Schönen von jedem immer weiterführen. Besonders schön daran: Die Liste ist eine endlose. (Lili Hering, 23.10.2018)