"Die gute alte soziale Frage ist eben nicht mehr die gute alte soziale Frage", sagt Rahel Jaeggi. "Und sie wird auch nicht von weißen Männern bestimmt."

Foto: Heribert Corn

Naturschutz, Frauenbewegung, der Kampf für Bürgerrechte oder das heute aktuelle Engagement für fairere Lebensbedingungen für geflüchtete Menschen oder Angehörige religiöser Minderheiten. Sie alle fordern in irgendeiner Weise Emanzipation. Die Philosophin Rahel Jaeggi befasst sich mit der Frage, wie durch den Begriff der "Emanzipation" die Bedingungen für Veränderungen von Gesellschaftsverhältnissen analysiert werden könnten. "Emanzipation" lautete auch der Titel der diesjährigen "Leibniz Lecture" der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die von Rahel Jaeggi vergangene Woche in Wien gehalten wurde.

STANDARD: "Emanzipation" klingt für viele erst einmal etwas altmodisch. Warum greifen Sie gerade diesen Begriff auf?

Jaeggi: Emanzipation ist in gewisser Weise ein altmodischer Begriff, aber keine altmodische Sache. Wie Solidarität, die aber gerade jetzt von vielen Seiten neu bestimmt wird. Oder Entfremdung, auch so ein "alter Hut".

STANDARD: Mit "emanzipiert" wird oft eine individuelle Lebensart beschrieben.

Jaeggi: Die Essenz dieses Begriffes ist aber genau nicht individuell, Emanzipation ist ein kollektiver Prozess. Die Einsicht, dass man individuelle Erfahrungen nicht außerhalb eines sozialen Kontextes macht. Das ist es, was mich an dem Begriff reizt: die Verschränkung von individueller und kollektiver Erfahrung, von individuellen und kollektiven Befreiungsprozessen. Und die Einsicht, dass wir nicht schon frei sind, sondern es erst werden. Und dass das ein langer, komplizierter Prozess ist.

STANDARD: Was sagen Sie als Marx-Expertin zu der Kritik, dass die diversen Emanzipationsbestrebungen bestimmter Gruppen mehr und mehr die ökonomische Ungleichheit ausgeblendet hätten?

Jaeggi: Wir kommen nicht weiter, wenn wir diese beiden Dinge gegeneinander ausspielen. Die gute alte soziale Frage ist eben nicht mehr die gute alte soziale Frage. Und sie wird auch nicht von weißen Männern bestimmt, von den – dieser These zufolge – armen weißen Männern, die sich jetzt abgehängt fühlen. Die soziale Frage ist heute immer auch von Migration mitbestimmt, von Leuten, die prekär arbeiten, von Frauen, die in ausbeuterischen Verhältnissen arbeiten. Hier gibt es ebenso viele und vielfältige Unterdrückungs- und Ausschlussmechanismen, wie es Emanzipationsbestrebungen gibt.

STANDARD: Die einander auch widersprechen können.

Jaeggi: Ja, es gibt Emanzipationslogiken, die miteinander in Konflikt geraten können. Sie hängen aber auch auf vielfältige Weise miteinander zusammen. Insofern glaube ich nicht, dass man wieder zurückgehen sollte auf das, was man dann für die "Kernfrage" oder den Hauptwiderspruch hält, oder dass man das auch nur könnte, sondern dass man die soziale Frage mit Identitäts- und Diskriminierungsfragen zusammenführen muss. Und mit den generellen Fragen der Gestaltung gemeinsamer Lebensbedingungen, also der Frage, wie wir leben wollen und wie wir darüber gemeinsam entscheiden können – auch das sind Fragen, die unter dem Stichwort Emanzipation gestellt werden.

STANDARD: Wie passt Marx da rein?

Jaeggi: Auch die Marx'sche Kapitalismuskritik betrifft ja beides: Ausbeutung und Entfremdung, nicht nur die Frage der gerechten Entlohnung der Arbeit, sondern die Verhältnisse, unter denen produziert wird, und was das mit uns und unseren Möglichkeiten, unsere Lebensbedingungen zu gestalten, macht. Das letzte Mal, als in diesem Sinne intensiv über Emanzipation geredet wurde, war 1968, als sich linke Gruppen als emanzipative Bewegungen verstanden. Das war der historische Moment, in dem es zumindest für einen Moment lang gelungen ist, all diese Fragen zusammen zu behandeln. Und deshalb sollten wir auch heute wieder von Emanzipation reden.

STANDARD: Gibt es Formen von Emanzipation, die auch zu neuen Zwängen führen können?

Jaeggi: Ja, natürlich. Manche Bestrebungen können Folgen haben, die man nicht voraussehen kann und die sich gegen die ursprünglichen Ziele verkehren. Das ist ein vieldiskutiertes Thema, vor allem seit 1999 das Buch Der neue Geist des Kapitalismus der Sozialwissenschafter Luc Boltanski und Ève Chiapello erschienen ist. Die Suche nach Authentizität und Selbstverwirklichung, die man als emanzipatorisch auffassen kann, der Versuch, sich vom langweiligen, normalisierten Nine-to-five-Arbeitsleben mit sicherer Lebensplanung und dem Ziel Eigenheim zu emanzipieren, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit aufzulösen und alles Erlebte kreativ zu nutzen, war ja in mancher Hinsicht eine Feier eines ästhetischen Prekariats. Doch irgendwann sahen die Leute, dass es nicht schick ist, prekär zu sein, sondern dass es einfach nur Armut, eine ungesicherte Existenz und arbeiten ohne Gewerkschaften bedeutet. Man kann dieses dahinterstehende Bestreben zwar verstehen, aber es befördert auch Arbeitsverhältnisse, die skandalös sind: zu arbeiten und nicht zu wissen, ob man davon leben kann. Ja, es gibt also Emanzipationsschritte, die in unsoziale Zwänge führen.

STANDARD: Ist Emanzipation in den bestehenden Arbeitsverhältnissen oder im Kapitalismus generell überhaupt möglich?

Jaeggi: Weder ja noch nein. Erstens gibt es nicht die eine große Struktur im Kapitalismus mit dem einen Rädchen – und wenn man an diesem dreht, verschwinden alle Herrschaftsverhältnisse auf einen Schlag, und das Leben wird mit einem Male schön. Sondern es sind viele subtil miteinander verwobene Verhältnisse – und natürlich gibt es in diesen partielle Emanzipationen. Ich glaube weder an einen Partikularismus im Sinne von: Wir gründen jetzt mal eine Landkommune, um uns dort so richtig zu emanzipieren. Noch halte ich etwas von der Idee, dass sich nichts ändern lässt, solange sich nicht alles ändert. Das ist offenkundig Unsinn. Denn es ändert sich ja ständig etwas, man sollte sich nicht blind für Emanzipationsfortschritte machen.

STANDARD: Könnte die Frauenbewegung als Beispiel dienen, sowohl für die erwähnte Verschränkung zwischen individueller und kollektiver Emanzipation als auch dafür, dass innerhalb eines sehr beständigen Systems voller Diskriminierung Veränderung möglich ist?

Jaeggi: Ja, das ist eine Erfolgsgeschichte. An den Lebensrealitäten von Frauen hat sich viel geändert, nicht überall auf der Welt und nicht in jeder Hinsicht. Aber dennoch ist viel gelungen, trotz komplexer bestehender Probleme oder falscher Aneignungen. Wie etwa der sogenannte Gläserne-Decke-Feminismus, bei dem es nur noch darum geht, dass an der Spitze von Unternehmen auch Frauen stehen – ohne darauf zu achten, was dann dort getan wird. Aber dass deshalb der wenigstens partiell erreichte Abbau von Diskriminierungen kein Fortschritt wäre, ist sicherlich eine Fehleinschätzung.

STANDARD: Könnte die Frauenbewegung als Beispiel dienen sowohl für die erwähnte Verschränkung zwischen individueller und kollektiver Emanzipation als auch dafür, dass innerhalb eines sehr beständigen Systems voller Diskriminierung Veränderung möglich ist?

Jaeggi: Ja, das ist eine Erfolgsgeschichte. An den Lebensrealitäten von Frauen hat sich viel geändert, nicht überall auf der Welt und nicht in jeder Hinsicht. Aber dennoch ist viel gelungen, trotz komplexer bestehender Probleme oder falscher Aneignungen. Wie etwa der sogenannte Gläserne-Decke-Feminismus, bei dem es nur noch darum geht, dass an der Spitze von Unternehmen auch Frauen stehen – unter Absehung von dem, was dann dort getan wird. Aber dass deshalb der wenigstens partiell erreichte Abbau von Diskriminierungen kein Fortschritt wäre, ist sicherlich eine Fehleinschätzung.

STANDARD: Zurzeit ist das zivilgesellschaftliche Engagement groß. In Deutschland gingen kürzlich Tausende gegen den Rechtsruck auf die Straße, in Österreich wird aktuell wieder jeden Donnerstag gegen die Politik der Bundesregierung demonstriert. Ist die Zivilgesellschaft die einzige Kraft für Emanzipation?

Jaeggi: Na ja, mir sind diese Veränderungen und diese sozialen und politischen Kräfte besonders wichtig. Aber politische Veränderungen gehen von verschiedenen Kräften aus, viele Weichenstellungen werden auch institutionell und von der etablierten Politik betrieben. Bisher haben eher Linke große gesellschaftliche Themen aufgebracht, die dann irgendwie ihren Weg in die etablierte Politik gefunden haben, denken wir zum Beispiel an die Ökologiefrage. Aber wie wir jetzt sehen, funktioniert es auch von der anderen Seite: Der Druck von rechter Seite hat zu einer restriktiveren Politik gegen geflüchtete Menschen geführt. Solche Bewegungen definieren auch, was auf dem politischen Radar ist, was als Probleme und Krisen identifiziert wird. Somit haben wir jetzt die Situation, dass es das auch von rechter Seite gibt. (Beate Hausbichler, 24.10.2018)