"Warum empfinden Zuschauer den Film als hart?" Diese Frage beantwortet der Filmverleih in den FAQ auf seiner Website: "Unser Film ist ein beobachtender Dokumentarfilm, der die Entwicklung von dynamischen Situationen hin zu einer Lösung erzählt. Damit diese Erzählung Sinn und Kraft entfaltet, müssen wir Ausgangssituationen sichtbar machen. Natürlich beginnt unser Erzählen oft in einer 'harten' Situation, denn im Film geht es ja um die Befreiung aus verfahrenen Teufelskreisen."

Foto: Zorro Film Verleih

Kinder im chronischen Stress: Laura schreit 14 Stunden am Tag. Anna kämpft mit ihrer Mutter um alles. Lucy hat noch keine Nacht durchgeschlafen. Joshua wird schnell wütend und beruhigt sich nicht mehr. Mohammed Ali kratzt sich blutig, schläft kaum und jammert den ganzen Tag. Felix trinkt nur Milch, die er gleich wieder erbricht. Zahra isst überhaupt nichts mehr außer Pommes und Chicken-Nuggets. So beschreibt der Filmvertrieb Zorro die Problemstellung des Dokumentarfilms "Elternschule". Die Eltern der Kinder, die sich vom Filmteam begleiten ließen, stehen rund um die Uhr unter Druck, denn ihre Kinder schlafen nicht, essen nicht und bleiben nie allein. "Der ist ja der Boss", bringt es der Therapeut im Trailer auf den Punkt, denn die Kinder haben teilweise die Macht über ihre Eltern ergriffen.

Seit dem Filmstart am 11. Oktober und auch schon davor, als erst der Trailer bekannt war, gehen die emotionalen Wogen hoch. Eine Facebook-Seite musste gesperrt werden, weil die Diskussion eskalierte, die Verantwortlichen der betreuenden Presseagentur fürchten sich davor, namentlich genannt zu werden, und auf Twitter gibt es den eigen Hashtag #elternschule zum Thema.

Zorro Film

Ganzheitliches Training

Der Film spielt in der Kinder- und Jugendklinik der westdeutschen Stadt Gelsenkirchen, Abteilung Pädiatrische Psychosomatik, wohin die erschöpften Eltern mit ihren Kindern kommen. Chronische Krankheiten werden dort behandelt, auch Neurodermitis, Asthma, Allergien, Schlaf- und Essstörungen sowie Verhaltensauffälligkeiten. Das Prozedere: Mindestens drei Wochen lang bleiben Eltern und Kinder in der Klinik und durchlaufen Schlaf-, Ess- und Verhaltenstrainings sowie Psychotherapie und Erziehungscoaching. Die Behandlung sei ganzheitlich, es gehe nicht nur um die Symptome der Kinder, sondern um das gesamte Beziehungsgeflecht der Familie sowie das Verhalten der Eltern. Aber das werde den Betroffenen erst nach und nach klar, lautet die Beschreibung des Films. Eine der Mütter sagt: "Wenn das hier nicht klappt, müssen wir sie in ein Heim bringen."

Zwischen Empörung und Empfehlung

Seit der Film publik wurde, hagelt es Kritik, eine Petition fordert sogar die Absetzung der Dokumentation, manche Medien halten sie aber auch für wichtig. Empörte Stimmen vergleichen die Methoden des leitenden Therapeuten Dietmar Langer mit Nazi-Praktiken, kreiden gewaltsame Erziehungsmethoden und Zwangsmaßnahmen des Schlaf- und Esstrainings mitsamt vergitterten Betten an.

Die "Zeit"-Kolumnistin Hella Dietz, eine Berliner Soziologin und Familientherapeutin, titelt ihren Artikel mit der Frage "Geheilt oder nur gehorsam?". Die "Süddeutschen Zeitung" schrieb, dass dieser Film für jeden, der Kinder hat, ein Muss sei, und in einem Kommentar geht es darum, dass die Beschimpfung von Regisseuren, Filmverleih und Eltern symptomatisch für eine ideologisch überhitzte Debatte sei.

Reaktionen in Österreich

"Es ist die Frage, worauf sich dieser Shitstorm bezieht. Auf die Doku oder die Tatsache, dass Eltern Hilfe brauchen", sagt die Wiener Erziehungsexpertin Martina Leibovici-Mühlberger von der Arge Erziehungsberatung und Fortbildung dem STANDARD. Sie glaubt, dass die starken Reaktionen "eigentlich die Angst und Betroffenheit der Gesellschaft davor ausdrücken, dass diese Kinder alle nicht zu einer selbsterhaltungsfähigen Generation werden, dass die Eltern-Kind-Beziehung nicht mehr funktioniert." In der gesamten Debatte bleibe das Phänomen über, dass Eltern und Kinder Gegenstand der Beobachtung seien.

"Prinzipiell birgt dieser Film die enorme Gefahr, diese Methoden als empfehlenswerte Erziehungsmethode für zu Hause zu verstehen und damit Gewalt quasi zu rechtfertigen. Das ist unbedingt zurückzuweisen", lautete die Reaktion des Wiener Kinderarztes Peter Voitl gegenüber dem STANDARD. Jede Form der Gewalt an Kindern, ob diese nun in körperlicher, psychischer oder sozialer Form angewandt wird, sei grundsätzlich abzulehnen. In dem Film werde ein sehr striktes verhaltenstherapeutisches Konzept für dekompensierte und verzweifelte Familien gezeigt.

"Die Behandlung wird vom Kinderarzt verschrieben und von den Krankenkassen übernommen. Aufnahmebedingung ist die vorherige Ausschöpfung aller ambulanten ärztlichen und psychologischen Therapiemöglichkeiten", erklärt der Filmverleih auf seiner FAQ-Seite. In Vorgesprächen werde auch geklärt, ob die jeweilige Familie in Gelsenkirchen überhaupt richtig sei, oder ob nicht andere Behandlungen besser wären.

Hilfe so früh wie möglich

"Nun ist es natürlich so, dass es vielfach Familienkonstellationen gibt, die viel zu spät Hilfe suchen und sich in einer echten Notlage befinden. Jedenfalls sollte so früh wie möglich professionelle Hilfe gesucht und in Krisensituationen rasch eine entsprechende Unterstützung in Anspruch genommen werden", sagt Voitl. Es sei auch Aufgabe von Kinderärzten, das zu erkennen. "Für Familien in Krisensituationen gibt es andere sehr gute Anlaufstellen, von denen wir wissen, dass die verwendeten Methoden gut und auch nachhaltig helfen können", so der Kinderarzt. Radikale Maßnahmen wie die im Film dargestellten sollten nicht nötig sein, zudem fehle jeder Hinweis auf den tatsächlichen Outcome – wie geht es diesen Kindern einige Jahre nach der gezeigten "Elternschule"?

Erziehungsexpertin Leibovici-Mühlberger stellt die Debatte auf eine gesellschaftliche Ebene: "Die Gesellschaft sollte eigentlich Bedingungen bieten, dass Eltern wissen, was sie zu tun haben, was nicht der Fall ist. Die neoliberalen Werte führen dazu, dass Kinder überfördert und damit überfordert werden, keine Grenzen mehr kennen und auch vom Konsum zu frühem Erwachsenwerden gezwungen werden." Eine Einrichtung wie die im Film gezeigte sei eine Antwort auf einen gesellschaftlichen Notstand, ob die Methoden ideal und zielführend seien, müsse wissenschaftlich evaluiert werden. (Marietta Adenberger, 24.10.2018)