Nach dem letzten Populismus-Blogbeitrag, der von den Schwierigkeiten berichtete, das Thema Populismus zu erforschen, widmet sich dieser Beitrag den wissenschaftlichen Erklärungen des neuen Populismus. Dabei sollen vier aktuelle Erklärungsstränge exemplarisch vorgestellt werden. Jeder von ihnen steht für einen bestimmten Zugang zur Thematik und baut seinerseits auf eine umfangreiche vorangegangene Forschung auf.

1. Der kulturelle Backlash

Der erste nennt sich die kulturelle Backlash-Hypothese. Die aktuell am meisten debattierte Variante dieses Ansatzes stammt von Pippa Norris und Ronald Inglehart. Beide gehen von einem generationsbedingten tiefgreifenden Wertewandel in der Gesellschaft aus, wobei jene den Babyboomern nachfolgende Generation gerade daran ist, gesellschaftliche und kulturelle Führungspositionen zu besetzen und dabei überall liberalen Leitwerten zum Durchbruch zu verhelfen versucht. Multikulturalität, Diversität, Toleranz bei Geschlechterrollen und sexueller Orientierung sowie eine tiefgreifende wirtschaftliche Liberalisierung wurden im ausgehenden 20. Jahrhundert zu den dominanten Wertemustern. Gegen diese gibt es zunehmend eine autoritäre Gegenbewegung in der Regel älterer und konservativer Bevölkerungsgruppen.

Wenn daraufhin liberale Orientierungen im öffentlichen Diskurs ein bestimmtes Ausmaß erreichen, vor allem in Verbindung mit Entwicklungen wie der Migrationsbewegung, wird ein gesellschaftlicher Kipppunkt (Tipping Point) erreicht. Infolgedessen können plötzliche und heftige Gegenreaktionen hervorgehen, da die älteren Generationen immer noch beinahe die Hälfte der Bevölkerungen stellen und häufiger als die Jungen zu den Urnen gehen. Diese Gegenbewegungen sind wahlarithmetisch äußerst wirksam, wie Brexit oder die Wahl Trumps zeigen. Demoskopisch gesehen lässt sich laut Norris und Inglehart dieser Gegenschlag in Form autoritärer Werte in vielen Staaten nachweisen. Für die Forscherin und den Forscher spielen die Unterschiede zwischen Rechts- oder Linkspopulismus dabei eine untergeordnete Rolle, entscheidend ist vor allem die neue Spaltungsebene zwischen autoritär und liberal, um die sich dann das Parteienspektrum neu formiert.

2. Der "Deep story"-Ansatz

Ein ähnlicher Ansatz, der jedoch forscherisch auf eine gänzlich andere Methodik aufbaut, ist jener der Soziologin Arlie Hochschild. In ihrem Werk "Strangers in Their Own Land" zeigt sie auf Basis umfangreicher Interviews und Beobachtungen von Wählerschaft der Tea Party und Donald Trumps, wie diese ihre subjektiven Beobachtungen und Erlebnisse zu einer "deep story" über die systemischen Zusammenhänge und deren vermeintliche verschwörerische Hintergründe verweben. Dieses Narrativ der Betroffenen besagt, dass ihnen der ihnen vermeintlich zustehende Platz in der Gesellschaft verwehrt worden sei. Liberale Eliten hätten es zugelassen, dass sich vermehrt andere vormals unterprivilegierte Gruppen mit unlauteren Methoden "vorgedrängt" hätten. Nach dieser "deep story", die vor allem von der weißen männlichen Bevölkerung in den konservativen Gegenden der USA besonders im Süden geteilt wird, würde jemand, der sich an die Spielregeln hält, irgendwann an die Spitze der Warteschlange gelangen, also quasi ein Stück des amerikanischen Traums erreichen. Dass das immer so war, dafür sorgte eine gewisse staatliche und gesellschaftliche Ordnung, die von weißen Männern bestimmt wurde.

Doch meint die ehemals privilegierte Bevölkerung längst erkannt zu haben, dass andere Gruppen immer häufiger vor ihnen an die Reihe kämen – Einwanderer, die eher Arbeit fänden, Schwarze, die mit scheinbar schlechteren Noten an bessere Unis gelangten, Frauen, die beruflich öfter als früher vorgezogen würden, Aktienspekulanten, die Betriebe auslagerten, Umweltaktivisten, deren Forderungen Arbeitsstätten bedrohten oder eine Medienlandschaft in den Metropolen, die auf das Hinterland herabzusehen scheine. Nach dieser Sicht der Dinge wähnt man sich nicht nur zunehmend unfair behandelt, sondern ist mittlerweile überzeugt, dass "die da oben", also jene, die die Spielregeln überwachen sollten, mit den vermeintlichen "Vorschwindlern" unter einer Decke steckten.

Die Rückkehr und Bewahrung alter Werte und Traditionen – in Österreich und Europa wäre das das Christentum – sind bei Populisten zentrale Themen.
Foto: standard/christian fischer

Mit der Wahl Obamas war dann in den Augen dieser Menschen endgültig der Bock zum Gärtner gemacht worden, und es schien, das ganze System habe sich gegen sie verschworen – sie seien nun Fremde im eigenen Land, in dem plötzlich andere Spielregeln herrschten. Da es sich um tiefsitzende Narrative handelt, lassen sie sich diese "alternativen Wahrheiten" auch mit Argumenten von Expertinnen und Experten oder Fakten kaum entkräften, denn diese werden einfach als Propaganda desselben unfairen Systems wahrgenommen. Im Gegensatz dazu zählt Trump in den Augen seiner Wählerinnen und Wähler als jemand, der auf ihrer Seite steht. Solange er an der Macht bleibt, würden wieder die alten Spielregeln gelten. Hochschilds Untersuchungen beziehen sich zwar auf die USA, lassen sich jedoch auch auf andere westliche Gesellschaften übertragen.

3. Die pathologische Normalität

Forscherinnen und Forscher wie Daniel Bell, Erwin Scheuch und Hans Klingemann waren in den 60er-Jahren davon ausgegangen, dass die liberale Demokratie mit rassistischen und autoritären Einstellungen grundsätzlich inkompatibel sei. Normale Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie würden solches Gedankengut im Prinzip verabscheuen. Den damals aufkeimenden Rechtsradikalismus erklärte man jedoch so, dass es immer wieder gewisse Personen gebe, die aufgrund ihrer psychischen Verfassung, ihrer besonderen Sozialisierung oder ihrer Unfähigkeit, sich auf politische Veränderung einzustellen, zu radikalen oder autoritären Einstellungen neigen. Es gebe daher in jedem an sich gesunden System einen radikalen politischen Rand, also eine Art normale Pathologie.

Im Gegensatz dazu zeigen jedoch systematische Umfragen und Wertestudien in westlichen Demokratien seit Jahrzehnten, dass extremistische, rassistische, illiberale und antidemokratische Einstellungen wesentlich weiter verbreitet sind, als Klingemann und andere angenommen hatten, und daher nicht erst in den letzten Jahren entstanden waren. Der niederländische Populismusforscher Cas Mudde nennt diesen Umstand daher die pathologische Normalität. Die Pathologie der politischen Systeme sei quasi der Normalzustand, in dem große Bevölkerungsgruppen nichtdemokratische Werte unterstützen.

Warum manifestiert sich das Problem jedoch dann erst in jüngster Zeit? Das erklärt die Wissenschaft mit dem zunehmenden Wechsel von materialistischen zu postmaterialistischen Themen und Interessen. Solange Pension, Arbeitszeit, Urlaub und Gesundheitsvorsorge die zentralen Probleme bildeten und die etablierten Parteien diese Themen erfolgreich bedienten, zog der Großteil der Wählerschaft, also auch zumeist jene mit radikaleren Neigungen, am selben Strang. Erst mit der Abkehr von der klassischen Sozialthematik brechen die Wählerblöcke auf und stehen Gruppen mit latent radikalen Ansichten auf dem Wählermarkt zur Verfügung. Durch die Besetzung neuer Themen jenseits der klassischen materialistischen Achse werden diese Wählerinnen und Wähler mobilisierbar und bilden die Basis für rechtspopulistische Wahlsiege.

Wie lassen sich die Wahlsiege Trumps oder das Ergebnis beim Brexit-Referendum erklären?
Foto: APA/AFP/SAUL LOEB

4. Der Populismus als propagierte Ideologie

Während die vorher genannten Erklärungen eher nachfrageseitig sind, geht die vierte und letzte hier vorgestellte Theorie stärker von einem angebotsseitigen Phänomen aus. So wird beispielsweise in einem neuen Werk von Kirk Hawkins und Mitautoren, "The Ideational Approach to Populism", der Populismus vor allem als Ideologie oder ideologieartiges Gedankengebäude verstanden, dessen Ursprung auf ein Repräsentationsversagen beziehungsweise eine Legitimitätskrise der traditionellen politischen Kräfte zurückgeht. Das öffnet neuen radikalen Parteien die Möglichkeit, der Bevölkerung mit ihren diffusen Ängsten, Frustrationen und Enttäuschungen ein kohärentes Ideensystem samt Argumenten anzubieten. Die populistische Ideologie begreift das Volk stets als moralisch überlegen, aber insgesamt homogen, die Eliten immer als korrupt und die Sachlage stets als schwarz-weiß. Wie bei allen Ideologien erklärt der Populismus, was schiefläuft (zum Beispiel zu viele Ausländer), wer schuld ist (zum Beispiel die EU oder linksliberale Politiker) und was getan werden muss (zum Beispiel die bestehenden Politiker hinauswerfen). Laut diesem Ansatz wird die vorhandene diffuse Unzufriedenheit mit der Politik oder mit bestimmten Entwicklungen von populistischen Parteien gezielt mit neuen ideologischen Inhalten aufgeladen. Also beispielsweise werden Emotionen angesichts eines Konfliktes mit Todesfolge in Chemnitz von der populistischen und radikalen Rechten gezielt mit Aufrufen kanalisiert und konkreten politischen Inhalten gefüllt. Danach berufen sich die Populisten auf das "wahre Volk" und dessen gefühlte Sicht der Welt, welche sie zu vertreten vorgeben.

Der Populismus nehme zu, so der Ansatz, weil jetzt die gegenwärtige Schwäche konkurrierender Ideologien breiten Raum für neue Ideenwelten geschaffen hat. Dem modernen Politikertypus, verkörpert etwa durch Tony Blair, David Cameron, Barack Obama oder Angela Merkel, der eher wie ein/e leidenschaftslose/r Technokrat/in und Problemlöser/in auftritt, halten populistische Ideologen Emotion, klare Gegensätze, Theatralik und eine Weltdeutung entgegen, in der der "kleine Mann" stets das Opfer ist und alle anderen die Bösen.

Komplexes Phänomen

Alle hier vorgestellten Ansätze weisen durchaus große Ähnlichkeiten auf und können empirische Belege vorlegen. Alle sind jedoch auch Kritik ausgesetzt. Beispielsweise kann man der Theorie von Norris und Inglehart vorwerfen, gänzlich ohne "Politik" und "Institutionen" auszukommen und daher viele Details schuldig zu bleiben. Gleiche Einstellungen in der Bevölkerung führen nicht unweigerlich zu gleichen politischen Ergebnissen, so ist beispielsweise Korruption überall verhasst, aber nur wenige Staaten bekommen sie in den Griff. Bei den zwei danach folgenden Ansätzen könnte man einwenden, dass dies Erklärung nur um eine Ursachenreihe verschiebt. Denn dann müsse man zunächst erklären, wieso früher erfolgreiche Parteien es zulassen konnten, dass bestimmte Wählerinnen und Wähler sich so entfremden konnten. Der letzten hier vorgestellten Theorie könnte man vorwerfen, zu sehr auf die Angebotsseite und zu wenig auf die Motive der Bevölkerung einzugehen.

Bei aller Kritik muss uns jedoch auch bewusst sein, dass ein komplexes und sich ständig veränderndes Zielphänomen nur schwer politikwissenschaftlich fassbar und definitiv zu erklären ist. Dennoch ist bei alternativen Deutungsversuchen eines politischen Phänomens eine noch größere Skepsis angebracht. (Reinhard Heinisch, 30.10.2018)